Alles hat seine Zeit

von Michael Wolf

Heidelberg, 4. Mai 2019. Auch ein Nachgespräch kann Performance sein. Im Gastspiel der türkischen Produktion "İki – Zwei" ging es um abstrakte Themen, um widerstreitende Kräfte, um Gegensätze, Dualismen. Bei der anschließenden Fragerunde aber kaperte Politik die Bühne. Ein Zuschauer wollte wissen, ob die Truppe wegen der Verwendung biblischer Texte nicht Probleme in der Türkei bekomme. Der Hinweis des Regisseurs Semih Fırıncıoğlu, die türkische Regierung habe ohnehin nur ein sehr begrenztes Verständnis von Theater und man könne daher weitgehend machen, was man wolle, verfing nicht. Die beim Applaus noch so fröhliche Stimmung kippte, Argwohn machte sich breit.

Immerhin, der Riss tat sich nicht zwischen Tribüne und Bühne auf, sondern verlief inmitten des Publikums. Eine Zuschauerin entgegnete, man dürfe die Türkei nicht auf Erdoğan reduzieren, so werde man diesem vielfältigen Land nicht gerecht. Das wäre doch so, Deutschland mit der AfD gleichzusetzen. Ein besonnener Einwand, doch befriedete er die Situation nicht. Es grummelte im Auditorium.

Anderes gelten lassen

Wir Zuschauer sind träge Wesen und erkennen am liebsten eben jenen Sinn, den wir schon vorher begriffen haben. Bei einem türkischen Gastspiel muss irgendwo auch etwas (aus den Nachrichten) Bekanntes verhandelt werden, und damit ein Reiz, dem wir entgegentreten, zu dem wir uns positionieren können. Auf verquere Weise stand das Nachgespräch damit dann doch unter dem Thema des Abends. Es zeigte einmal mehr, wie schwer es fällt, das Andere als solches gelten zu lassen, ohne es sich zu eigen zu machen oder aus ihm einen Gegensatz zu sich selbst zu konstruieren.

Diese Schwierigkeit ist freilich auch der in seiner Struktur und Bedeutung offenen und damit herausfordernden Arbeit geschuldet. Auf meine Nachfrage, wie Regisseur Fırıncıoğlu denn zu dem großen intellektuellen Projekt des Westens stehe, Dualismen aufzulösen (zum Beispiel den zwischen Mann und Frau) blockte dieser ab. Es gehe ihm in seiner Arbeit nicht darum, eine Aussage zu treffen. Er präsentiere nur, wie er die Dinge sehe.

Was gibt es bei "Zwei" zu sehen? Eine zarte Meditation über das Verhältnis von Singularitäten; in leichten, luftigen Choreographien reflektiert das Ensemble Licht und Schatten, Essen und Ausscheidung, Tod und Leben. Fünf junge Performerinnen tanzen in kurzen, lose verbundenen Nummern über die Bühne. Anfangs präsentieren sie ihre Gesichter in erleuchteten Papprahmen: Seht her, das bin ich! Hier fange ich an, hier höre ich auf. Dann aber drückt sich eine weitere Performerin ins Bild. Was nun? Sind wir jetzt "eins"? Und wenn nicht, was heißt es "zwei" zu sein?

Zwei 1 700 Murat DueruemRote Pfeile wie Mikrofone: die Schauspielerinnen Cemre Buğra Ün und Sedef Gökçe in "Zwei" © Murat Dürüm

Immer wieder arrangiert das Ensemble die Lichtsituation neu, trägt kleine Leuchten über die dunkle Bühne, knippst Hängelampen an und wieder aus. Erhellend und lustig, wie eine Schauspielerin erklärt, der Unterschied zwischen den Epochen der Aufklärung und der Romantik bestehe darin, dass die Verfechter der Aufklärung (mangels elektrischen Lichts) nur bei Tageslicht haben lesen und sich damit erleuchten konnten. Die Romantiker hingegen hätten sich in der Nacht am wohlsten gefühlt.

Zustand der Verwandlung

Die Textauwahl reicht von der Bibel über Stanislaw Jerzy Lec bis hin zu Robert Frost und dem türkischen Almanach. In ihnen allen geht es, andeutungsweise oder explizit, um Transformationen, um das Verlassen eines Zustandes. Als wären es Mikrophone sprechen die Performerinnen in rote Pfeile. Die Richtung des Abends: nur immer weiter! In einem ein Staffellauf der Gegensätze, hin zur Überwindung des gerade währendes Zustands. "Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit / eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben", heißt es da in der Bibelstelle, die später das Nachgespräch politisieren würde. Dabei spricht "Zwei" keine politischen, keine türkischen oder deutschen Themen an. Der Abend will nicht auf das Trennende, sondern das Verbindende hinaus. Denn er adressiert uns alle, uns Türken, Deutsche, uns Menschen, die wir jetzt leben und eines Tages nicht mehr.

 

Zwei ("İki")
nach Texten aus dem Alten Testament (Prediger Salomo) sowie von Stanislaw Lec, William Butler Yeats, Robert Frost und dem türkischen Almanach 2017
von Semih Fırıncıoğlu in der Regie von Semih Fırıncıoğlu, Semih Fırıncıoğlu Project
Regie und Musik: Semih Fırıncıoğlu, Mitarbeit und Dramaturgie Ayşe Draz, Mitarbeit und Sounddesign: Cevdet Başaçik, Bühne und Kostüme: Levent Başaçik.
Mit: Ayşe Draz, Nezaket Erden, Sedef Gökçe, Yazı Köz, Cemre Buğra Ün.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

 

 Mehr über die Türkei im Theaterbrief von Dilek Altuntaş

 

 

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