Noch nicht genug

von Michael Wolf

Heidelberg, 5. Mai 2019. Das Gastspiel beginnt holprig. Die Übertitel fallen aus, weshalb die junge Schauspielerin Nezaket Erden unterbrechen und nach ein paar Minuten neu beginnen muss. Keine dankbaren Bedingungen für eine Aufführung; erst recht, wenn man sie ganz allein bestreiten muss. Umso beeindruckender, was Erden in den kommenden eineinhalb Stunden auf die Bühne zaubert.

Weite der Fantasie

Sie spielt Dirmit, ein junges Mädchen, das mit ihrer Großfamilie vom Land in eine Stadt zieht. Die Verhältnisse sind trostlos, der Vater findet keinen Job, die Wohnung hat nur ein Zimmer. Als Mädchen leidet vor allem Dirmit an den Verhältnissen; die Eltern und Brüder reglementieren ihr Leben, kontrollieren jeden ihrer Schritte. Kürzt sie ihre Röcke, zerreißt ihr Bruder sie. tanzt sie zu Musik, schmeißt der Vater das Radio aus dem Fenster; selbst das Lesen und Gedichte schreiben verbieten sie ihr unter Androhung von Prügel. Unterkriegen lässt sie sich aber nicht. "Hatte ich jetzt genug? Hatte ich nicht!“ So lautet der Refrain des Abends. Not macht erfinderisch. Dirmit entflieht der patriarchalen Enge, freundet sich mit Pflanzen wie mit Gegenständen an. Sie zieht sich in sich selbst zurück und findet dort die Weite der Fantasie.

Dirmit1 3In einer reglementierten Welt: Nezaket Erden spielt "Dirmit" © Nazlı Erdemirel

Konsequent daher, dass Hakan Emre Ünal vom Tiyatro Hemhâl die Geschichte auf einer leeren Bühne erzählen lässt. Nezaket Erdens einzige Spielpartnerin ist anfangs eine Topfpflanze. Und doch füllt Erden die Bühne bald mit der ganzen Familie. Den trotteligen, aber gewalttätigen Brüdern, dem resignierten Vater, der dem "grünen Buch" (gemeint ist der Koran) verfällt, und der harten, auf Tugendhaftigkeit bestehenden Mutter, die nicht mal davor zurückschreckt im Schlaf Dirmits Jungfräulichkeit zu überprüfen. Da schreit die Tochter "so laut, dass Staub von der Decke rieselt". Am Ende stirbt die Mutter einen langsamen, quälenden Tod.

Erfindung des Optimismus

Bedrückend ist "Lieber schamloser Tod − Dirmit (Sevgili Arsiz Ölüm − Dirmit)" und zugleich doch heiter, leicht. Erden trägt den Text lebhaft und energisch vor, mit Lust an der eigenen Geschichte – so als habe sie den Optimismus eigens erfunden, erfinden müssen. Hierin liegt die tragische Komik von Erdens Spiel. Und – so wirds ein Kunststück – diese überträgt sich selbst beim Schielen auf die deutschen Übertitel. Hier gibt es eine weitere Entdeckung zu machen. Bei dem Text handelt es sich um Hakan Emre Ünals und Nezaket Erdens Bearbeitung von Latife Tekins gleichnamigem Roman. Tekin ist in der Türkei seit Jahrzehnten sehr erfolgreich, auf Deutsch erschien bislang nur ihr Roman "Honigberg". Schade! Wie gern würde man lesen, wie es mit Dirmit nach dem Tod der Mutter weitergeht. Denn: "Hatte ich jetzt genug? Hatte ich nicht!"

 

Lieber schamloser Tod − Dirmit (Sevgili Arsiz Ölüm − Dirmit)
von Hakan Emre Ünal und Nezaket Erden nach dem Roman von Latife Tekin
Regie: Hakan Emre Ünal, Tiyatro Hemhâl
Mit: Nezaket Erden.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.hemhaltiyatro.com/

 

 Mehr über die Türkei im Theaterbrief von Dilek Altuntaş

 

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