Der Augenblick vorm Kofferschließen

von Verena Großkreutz

Heidelberg, 5. Mai 2019. Was bleibt? Was macht einen Menschen aus? Und was alles verliert er, wenn er seine Vergangenheit hinter sich lassen muss? Wenn er geplant oder Hals über Kopf fliehen muss, weil er in seiner Heimat nicht mehr in Frieden und Freiheit leben kann? Ist die Spur, die er hinterlässt, greifbar? Wer ist er, dieser Mensch, und woran macht sich das fest? Mit diesem Thema hat sich das unabhängige türkische Theaterkollektiv A corner in the world in "Light theory" von Onur Karaoğlu, der auch Regie geführt hat, eingehend beschäftigt. Im Zwinger erlebte das Publikum einen lange nachwirkenden Theaterabend. In diesem hochspannenden, poetischen und auch bestürzenden Stück ist Istanbul der Ort, an dem sich auf unterschiedlichen Zeitebenen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Schicksale kreuzen.

Traum vom Menschen

In der Rahmenhandlung stellt eine Archäologin (Zinnure Türe) im Jahr 2419 die neu entwickelte Lichttheorie vor: Demnach strahle jeder Gegenstand Lichtdaten ab – eine potenzielle Fotoplatte. Mit einer neuen Technologie, einer Box, könne man den Augenblick der letzten Lichteinstrahlung als Bild sichtbar machen. Für die Archäologie die Erfüllung eines lang gehegten Traums, suche sie doch eigentlich keine Gegenstände, sondern nach dem Menschen.

light theory1 700 Murat DueruemOkan Urun und Zinnure Türe in "Light Theory" © Murat Dürüm

Daraus entspinnt sich der Binnenteil des Abends: Zu Wort kommt Kaan, ein Schauspieler, der im Mai 2019 über seinen Plan reflektiert, Istanbul gen Paris für immer zu verlassen. Aber noch zwei andere Stimmen sprechen aus ihm: Anna, eine Gelehrte aus dem mittelalterlichen Konstantinopel (heute Istanbul), die 1453 vor dem Kriegsdauerzustand ihrer Stadt geflohen ist. Und Feraye, eine junge Studentin aus dem kriegszerrütteten Syrien, die auf ihrer Flucht 2013 in Istanbul Station macht.

Nichts vergessen?

Eine Leinwand, ein paar Fotos, das reicht als Requisite für einen vielschichtigen Monolog zum Thema Flucht, den Okan Urun unmittelbar berührend und emotional darzustellen weiß. Und in dessen Zentrum manisch die Frage kreist, die sich alle Flüchtenden stellten, bevor sie ihren Koffer schließen: "Habe ich auch nichts vergessen?" Eine existenzielle Frage, die die Migrant*innen niemals wieder loslassen werde, so Kaan. Eine Frage, die eng mit dem Ich und seinem Selbstverständnis verbunden ist.

Es geht dabei nicht nur um Gegenstände, sondern auch um Gefühle und Situationen, alles eben, was mit der Erinnerung verbunden ist. Anna etwa würde nicht nur ihre etlichen Bücher mitnehmen wollen, sondern auch ihr sperriges Bett, in dem sie in kalten Wintertagen am liebsten gearbeitet hat und in dem sie unendlich schöne Liebesnächte mit ihren Freundinnen verbracht hat. Kaan spricht vom Orange der Morgendämmerung, das ihn nach glücklichen durchfeierten Nächten empfing, und von der Straße, auf der er etliche hübsche Jungen küsste. Feraye fragt sich, ob "eine Kriegsgeflüchtete etwas mitnehmen kann, um anderen den Krieg zu erklären? Können Steine, kaputte Türgriffe, ein gefundener Ausweis einen Krieg beschreiben? Sie hatte einen Lieblingssalzstreuer in Form eines Frosches." Manchmal, sagt Kaan, sei eine Frage besser als die Antwort.

Letztes Bild vor der Katastrophe

Am Ende sind wir wieder in der Zukunft. Die Archäologin demonstriert dem Publikum die Lichttheorie an einem Beispiel: Ein Koffer, kürzlich gefunden unter den Trümmern Istanbuls, dass vor 400 Jahren dem Erdboden gleichgemacht wurde, dient als Objekt. Der Koffer lag seitdem im Dunkeln, jetzt werden die Lichtdaten sichtbar gemacht. Ein Foto erscheint auf der Leinwand: ein Mann, gerade im Begriff den Lichtschalter auszumachen und den Raum zu verlassen. Die rote Armbinde macht kenntlich, dass er Mitglied einer Widerstandsgruppe ist. Ein Bild, entstanden einen Tag vor der Zerstörung Istanbuls am 29. Dezember 2019. Das letzte Bild vor der Katastrophe.

 

Light Theory
von Onur Karaoğlu
in türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Regie: Onur Karaoğlu, Licht-Design: Utku Kara, Bühne: Onur Karaoğlu, Utku Kara, Sound-Design: Özcan Ertek, Kostüme: Hilal Polat.
Mit: Okan Urun, Zinnure Türe.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.acornerintheworl.com
www.onurkaraoglu.com

 

 Mehr über die Türkei im Theaterbrief von Dilek Altuntaş

 

Kommentare  

#1 Light Theory Kritik: treffend und umsichtigDieterle 2019-05-07 06:06
eine sehr sensible, umsichtige, treffende Kritik!!
Danke

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