Der Zug, in dem wir alle sitzen

April 2019. Ein Mann liegt mit Verbrennungen im Koma. Zwei chinesische Wanderarbeiter stranden in Italien und eine Gruppe Reisender bemerkt im ICE, dass der Zug in keinem Bahnhof mehr hält. Thomas Köck führt in "paradies spielen" Klimakrise, Kapitalismus und Globalisierung zu einer ideenreichen, hochtourigen Sprechoper zwischen distanziertem Vorführen und empathischer Figureneinfühlung. Wie Regisseur Moritz Peters das Stück in seiner Potsdamer Nachinszenierung angepackt hat, darüber sprach Simone Kaempf mit ihm.

nachtkritik.de: Vom Dramatiker Wolfram Lotz stammt der Satz, dass neue Texte fürs Theater so sperrig sein sollten, dass sie im besten Falle nicht durch die Tür des Hauses passen. Auf Thomas Köcks Stück trifft das definitiv auch zu. Wie haben Sie sich dem Text genähert?

Moritz Peters: Ich habe ihn erstmal versucht zu lesen, drei- oder viermal hintereinander, um ein Gefühl für den Gesamtkomplex zu bekommen. Man merkt sofort, dass das ein atmosphärischer und musikalisch-rhythmischer Text ist, der sich inhaltlich beim Lesen nicht sofort erschließt. Er ist erstaunlich komplex, sowohl in Assoziationsketten als auch rein in der Form und der Aufteilung auf die Sprecher. Als allererstes habe ich versucht, mich in den ganz eigenen Sound einzuhören. Erst im zweiten Schritt habe ich mich dann gefragt, welcher Teil mich interessiert, welcher nicht und wie ich szenisch damit umgehe.

nachtkritik.de: Einerseits analysiert der Text, dann hat er eine emotionale Kraft, es gibt verortete und abstrakte chorische Szenen. Ist das alles eher eine Schwierigkeit oder eine Chance?

Moritz Peters: Chance! Ich war sehr glücklich drüber, dass es diese Offenheit gibt. Thomas Köck deutet das ja auch auf seine ironische Eigenart an. Er stellt im Vorspann unmögliche Forderungen ans Theater, das Stück soll im größtmöglichen Haus gespielt werden, der Chor soll ein Kinderchor sein. Solche ironischen Vorgaben mag ich sehr. Das finde ich großartig, für mich eine totale Chance.

nachtkritik.de: Der Text ist inhaltlich sehr komplex, es gibt drei Erzählstränge. Erst am Ende begreift man, dass es um so etwas wie die Unfähigkeit geht, den Zug, in dem wir alle sitzen, zum Stoppen zu bringen. Wie würden Sie zusammenfassen, wovon "paradies spielen" handelt?

Moritz Peters: Um die existenzielle Ausgesetztheit der Figuren, der Menschen, vielleicht sogar der ganzen Welt gegenüber einem nicht zu kontrollierenden, nur noch nach eigenen Gesetzen handelnden System. Dieses System ist für sie nicht richtig durchsichtig, aber sie sind unmittelbar von diesem größeren Zusammenhang bestimmt. Wie sie Einfluss nehmen könnten, wissen sie nicht so recht zu sagen und vermutlich ist es deswegen auch nicht so einfach, den Text auf Anhieb inhaltlich zu durchdringen.

nachtkritik.de: Mehrere Figuren sprechen, etwa ein Zugführer oder zwei chinesische Wanderarbeiter, aber auch ein Chor. Den Chor haben Sie sehr stark gemacht.

peters moritz c michael disqueMoritz Peters © Michael DisqueMoritz Peters: In vielen Passagen ist nicht so eindeutig, ob wirklich chorisch gespielt und gesprochen wird. Eine meiner ersten Entscheidungen war aber, dass alle Figuren und Szenen aus dem Chorkörper entstehen, alle immer wieder in den Chor zurückgehen und daraus kommen. Ich sehe in ihm schon so etwas wie Repräsentanten unserer Gesellschaft, und unsere Gesellschaft rast auf etwas zu, bis es zum Crash kommt. An dem Punkt ist man noch nicht, so haben wir das zumindest gesehen, insofern ist das natürlich auch eine Dystopie, eine warnende Dystopie. Und die Figuren darin verbindet dieses fast opferhaft in die Weltgeschleudertsein.

nachtkritik.de: Das Stück gewann im Mai vergangenen Jahres den Mülheimer Dramatikerpreis. Die Jury diskutiert dort jeweils öffentlich, das heißt, es gab bereits eine Auseinandersetzung mit dem Text. Spielt es einem zu, wenn es bereits ein reges Nachdenken über ein Stück gibt?

Moritz Peters: Die Potsdamer Intendantin Bettina Jahnke trat auf mich zu, als der Mülheimer Dramatikerpreis noch nicht vergeben war. Der Großteil meiner Vorbereitung und auch die Bauproben fanden also vor Mülheim statt. Es hatte dann aber für uns Positives, weil Thomas Köck in der Öffentlichkeit nochmal präsenter war. Ich habe ihn persönlich nicht getroffen, er ist zur Premiere gekommen, dort haben wir uns kennengelernt. Ich habe auch nicht wirklich den Kontakt gesucht. Aber nach der Preisvergabe in Mülheim habe ich nochmal viel von ihm durch die Medien wahrgenommen, dass er ein sehr politisch denkender Mensch ist und aus der performativen-Musiker-Szene kommt. Die vielen Interviews mit ihm zu lesen hat mir für die Erschließung des Textes dann nochmal einiges gebracht

nachtkritik.de: Haben Sie sich zur Vorbereitung die Uraufführung in Mannheim angeschaut?

Moritz Peters: Ich war schon relativ weit mit meinen Vorbereitungen und habe mich dann bewusst dagegen entschieden, weil ich mich nicht davon beeinflussen lassen wollte. Sonst mache ich das eigentlich oft bei Stücken, aber hier hatte ich ein bisschen Angst, dass ich dann schon einen fremden Sound, von dem ich anfangs sprach, in den Kopf bekomme. Es war aber auch eine besondere Situation in Potsdam, meine Inszenierung gehörte zum Start der neuen Intendantin, ich kannte die Spieler alle nicht und wollte möglichst 'naiv', so weit es möglich ist, in die Proben gehen.

nachtkritik.de: Ein Drittel des Textes haben Sie gestrichen. War das in diesem Fall auch eine Chance, dass Sie nicht die Uraufführung inszenierten? Bei Uraufführungen ist man damit in der Regel zögerlicher.

Moritz Peters: Auf einer Uraufführung liegt immer auch eine Aufmerksamkeit, die gut ist. Insofern hätte ich auch gerne die Uraufführung gemacht, da bin ich ehrlich. Anderseits war hier auch ein gewisser Druck weg, das hat auch positiv gewirkt. Ich kann mir vorstellen, dass ich mir mehr einen Kopf gemacht hätte und vermutlich wäre ich bei der Strichfassung vorsichtiger gewesen. Aber mit den Schauspielern und dem Team in Potsdam war die Frage nach Uraufführung oder Nachinszenierung ganz schnell völlig egal. Ich wollte mit dem großartigen Text, von dem ich begeistert bin, eine tolle Arbeit machen.

nachtkritik.de: Sie inszenieren auch viele Klassiker, ist das ein Unterschied zu zeitgenössischen Stücken?

Moritz Peters: Zur Zeit probe ich den "Kirschgarten". Diese Tschechow-Welt ist schon eine ältere, man baut Fremdtexte, Aktualisierungen und leichte Wortveränderungen ein, damit es nicht ungewollt anachronistisch wirkt. All das brauchte ich in "paradies spielen" nicht. Auf der anderen Seite hat man auch nicht so auf der Hand liegende komplexe Figuren. Die Sprache bei Thomas Köck ist großartig, aber in Stücken wie der "Zerbrochene Krug", das ich letztes Jahr gemacht habe, öffnen sich die Figuren durch ihr Sprechen noch einmal anders, das macht schon einen Unterschied. Wobei "paradies spielen" schon Klassiker-ähnlich ist, mit einer komplexen Sprache und als fast lyrisches Langgedicht.

 

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