Ich erinnere dich, du erinnerst mich, wir erinnern uns

von Jan Fischer

April 2019. Letztes Jahr haben sich die Jugendstücke des Heidelberger Stückemarktes mit Geschichten über Radikalisierung in die Weltpolitik hinausgewagt, dieses Jahr ziehen sie sich ins Persönliche zurück. Was nicht heißt, dass es gemütliche, kleine Inszenierungen aus wohligen Hygge-Kokons zu sehen gäbe. Aber die große Frage danach, wer man denn so sei, und warum verdammt nochmal so viele – die auch viele Erwachsene noch umtreiben dürfte – klärt sich kaum in den Schlagzeilen. Sondern irgendwo tief in einem drin. Im Erleben. Im Erinnern ans Erleben. Jedenfalls ist den drei eingeladenen Inszenierungen, "Iason" aus Braunschweig, "Nathan" aus Hannover und "Every heart is built around a memory" gemein, dass sie in Erinnerungen – ans gestern, ans heute, ans morgen – wühlen, um ein wenig mehr Orientierung aus diesen dunklen Minen des Geistes zu fördern.

Gestürzter Held: "Iason" von Kristo Šagor

Iason geht es nicht so gut. Seine Frau Medea hat gerade die Kinder umgebracht, die stolze Argo liegt verrottend am Strand, und das goldene Vlies, das er einst so heldenhaft besorgt hat, will auch keiner mehr haben. "Was ist ein Held?", fragt er sich im letzten Satz von Kristo Šagors "Iason" (Regie: Jörg Wesemüller) am Staatstheater Braunschweig. Erzählt wird der klassische Stoff der Argonautensage, aber ohne den Pomp der ganz großen Klassikeraufführung.

Zu Beginn gibt es einen dichten, lustigen Was-bisher-geschah-Block, der die endlose griechische Göttersoap zusammenfasst bis zu dem Punkt, an dem Iason losfährt. Darauf folgt ein Sprung ins Indirekte, ein distanziertes Nachspielen der Erinnerung an die Argonauten-Sage. Aus dem Gedächtnis von jemandem, der sich nur grob an die Geschichte erinnert, sie aber unbedingt erzählen möchte, indem er sich an zusammengegoogelten Zitaten entlang improvisiert.

Iason58 700 BettinaStoess"Iason": Götz van Ooyen, Luca Füchtenkordt, Johannes Kienast, Cino Djavid, Isabell Giebeler, Saskia Taeger © Bettina Stöß

Auch die Bühne – mit Plastik ausgelegt und ansonsten mit drei Plattformen recht minimalistisch gehalten – wirkt improvisiert. "Iason" erdet den mythisch verklärten Titelhelden, macht die Sage zum Heldenbuddy-Roadmovie, versetzt mit Popkultur: "Mandela wurde 25 Jahre im Gefängnis gequält, und der ging nicht kaputt. Der kam als Gandalf der Weiße wieder raus", heißt es, als die Truppe in einer Flaute auf dem Meer treibt. "Das ist Mission Impossible", über das Pflügen der Aresflur. Kurz vor der Rückkehr der Helden: "Wir sind von Griechenland nach Kolchis nach Georgien über Lybien zurück nach Griechenland gefahren? Hast du einen an der Waffel oder was?"

"Iason" macht sich über die überbordende Komplexität der griechischen Götter- und Mythenwelt lustig, baut durch seine Erzählperspektive aber auch genügend Distanz dazu auf, um ganz wesentliche Fragen aus dem Stoff heraus zu destillieren: "Was ist ein Held?" wird immer wieder gefragt, "Was ist eine Geschichte?", "Was ist ist Heimat?". Die Antworten fallen immer anders aus, je nachdem, wo in der Geschichte die Helden sich befinden, und wir lernen: Heldentum, die eigene Erzählung, alles muss innerhalb einer persönlichen Geschichte, an die wir uns immer nur bruchstückhaft erinnern können, trotzdem ständig neu verhandelt werden. Iason tut das nicht und zerbricht am Ende daran.

Aufklärung, später: "Nathan" von Oliver Frljić

In "Nathan" vom Jungen Schauspiel Hannover dagegen geht es weniger um persönliche Erinnerung als vielmehr um Erinnerungskultur. Der Heilige Geist, Jehova, Jesus, Maria und Mohammed stapfen zu Beginn der Inszenierung auf einen mit massenhaft Schuhen ausgelegten Boden, der an die Gedenkstätte in Auschwitz mit ihren Haufen von Schuhen Ermordeter erinnert. Jesus holt sich mit dem Satz: "Wer von euch wurde gezwungen hier zu sein?" bitterböse die Sympathien des Publikums ab.

Oliver Frljićs "Nathan" ist grob respektlos; gegenüber Religionen, deren Vertreter auf der Bühne immer wieder wie Streithähne aneinandergeraten. Aber auch gegenüber der Textvorlage, Lessings "Nathan der Weise" – an einer Stelle werden Seiten aus dem Reclamheft an eine der Darstellerinnen verfüttert, die sie wieder ausspuckt, eine Nacherzählung der Ringparabel endet in kollektivem Gelächter der Religionsvertreter.

nathan 0647 700 Karl BerndKarwaszViele Streithähne hat dieser "Nathan": Johanna Bantzer, Beatrice Frey, Hannah Müller, Dennis Pörtner, Andreas Schlager © Karl-Bernd Karwasz

Letztendlich versucht die Inszenierung aber schon – in Tradition der Lessingschen Vorlage – die Ideale der Aufklärung auf ihre Aktualität im Verhältnis zwischen den Religionen abzuklopfen. Es werden verhandelt das Verhältnis zwischen der jüdischen Religion und Deutschland, das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel, das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Judentum – von vor dem Zweiten Weltkrieg bis heute.

"Nathan" ist der Versuch eines ganz großen Wurfs, der tief in kollektiven Erinnerungen an den Holocaust wühlt. "Nachdem sie 6 Millionen Juden umgebracht hatten, entschuldigten sich die Deutschen", heißt es, verbunden mit dem Hinweis, dass schon bald nach der ersten Entschuldigung kapitalistische Interessen in den Vordergrund der internationalen Beziehungen rückten – als Beispiele werden Deutschlands Waffenhandel mit Israel angeführt oder die aus Deutschland gelieferten Chemikalien, die 1988 für den Genozid Saddam Husseins an tausenden Kurden eingesetzt wurden.

Die Ringparabel – "Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!" – tragen die Religionsvertreter kichernd vor, denn mit der Realität interreligiöser Verhältnisse hat der Höhepunkt des Lessing-Stücks für sie wenig zu tun. Die Aufklärung ist vergessen, die Versprechen von Toleranz, Friedfertigkeit, "Nie wieder" sind kaum noch zu hören. Die kollektive Erinnerung an den Holocaust, an die Ideale der Aufklärung – alles das wirkt bei Frljić nicht stark genug gegen die Kräfte des Bösen.

Digitaler magischer Realismus: "Every heart is built around a memory" von Markolf Naujoks

Ganz leise und persönliche Töne schlägt dagegen "Every heart is built around a memory" von Markolf Naujoks aus dem Staatstheater Kassel an. In einer nahen Zukunft ist Marie tot, ihre Schwestern Carla und Nina gehen in einer Matrix-artigen virtuellen Realität, die Marie zu Lebzeiten erbaut hat, auf die Suche nach ihr. Dabei müssen sie einen Parcours bewältigen, dessen Schlüssel Maries Erinnerungen an ihr Leben sind, die sie tief in ihren elaborierten Fantasie-Konstruktionen vergraben hat. "Alles, was Marie interessiert hat, war zu bauen", sagt eine ihrer Schwestern. Und was sie gebaut hat: endlose Weiten mit grimmigen Reitern, verwaiste Städte, Paläste und Seen. Und irgendwo in dem digitalen magischen Realismus eben auch: sich selbst.

Every heart 2 N.Klinger"Every heart is built around a memory": Sarah Zelt, Nadja Duesterberg © N.Klinger

Die Musik in "Every heart is built around a memory“ ist atmosphärisch: Live-Geige zu elektronischen Klängen. Dazu bewegen Nina und Carla sich durch das Bühnenbild mit Projektionen teilweise animierter Zeichnungen, flüchtig wie Maries Erinnerungen an ihr Leben. Sie müssen beweisen, wie gut sie Marie kannten. Nebenbei versuchen sie, ihre katastrophisch verwaiste virtuelle Realität zu retten, bis Maries Avatar auftaucht und die Verwirrung komplett macht: "Das klingt jetzt echt blöd, aber bist du echt?", fragt sie eine der Schwestern.

"Every heart is built around a memory" ist ein zarter Essay übers Wandeln zwischen der Realität des Todes im real life und der des Lebens in der digitalen Welt. Darüber, wie Erinnerungen, kleine Ereignisse, sich im Kopf zu etwas großem aufplustern können, wie eine Persönlichkeit ausmachen kann, was für andere gar nicht wichtig ist. Ein Essay über die unsichtbaren Leben der anderen – das im Endeffekt selbst daran glaubt, dass es doch immer Berührungspunkte zwischen den Welten gibt, so unterschiedlich sie sein mögen.

Und nun gehe in die Welt

Die diesjährigen Jugendtheaterinszenierungen des Heidelberger Stückemarktes suchen also alle drei Orientierung in Erinnerungen – ob das nun ganz persönliche sind, halb erinnerte Mythen oder in der gesellschaftlichen Erinnerungskultur verankert. Eines ist allen diesen Erinnerungen gemeinsam: Sie machen einen Menschen, weil außer Erinnerungen wenig bleibt. Damit ist dieses ganze Ich-Ding genauso unendlich kompliziert wie einfach. Das, was du bist, ist das, was von da draußen in dir ist – und nun gehe in die Welt und werde mehr.

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