Marie im VR-Himmel

von Georg Kasch

Heidelberg, 29. April 2019. Virtual Reality (VR) ist eine Bühne. Eine, die andere gebaut haben. Oder die man selbst zusammenzimmert, mal aus vorgegebenen Einzelteilen, mal komplett aus dem Nichts. Es gibt Figuren, Konflikte, Lösungen. In guten VR-Games fühlt man sich mittendrin, als Teil des Ganzen – in guten Theateraufführungen auch.

Diese Analogie nutzt Autor und Regisseur Markolf Naujoks, um in seiner Kasseler Stückentwicklung "Every heart is built around a memory", von der Macht der Fantasie zu erzählen. Die Inszenierung eröffnet die diesjährige Jugendstücke-Reihe beim Heidelberger Stückemarkt. Marie ist tot, sie war ein halbes Kind noch, und ihre großen Teenager-Schwestern Nina und Carla versuchen nun zu begreifen, wie es dazu kam. Also loggen sie sich in ein VR-Game ein, das Marie entwickelt hat. Die Aufgabe dort: Marie zu finden. Erst dann wird sie ihnen alle Fragen beantworten.

VR als Fantasie-Maschine

Auf der Suche stoßen sie auf Geschichten, kleine Anekdoten, in denen ein großer Schmerz wohnt. Ein Zelt erzählt von Mobbing, eine Garage von einer peinlichen Begebenheit von erniedrigendem Ausmaß, eine Treppe von einer Sicherheit, die es für Marie offenbar nie gab. Deshalb schuf sie, der Bastel- und Programmier-Nerd, sich eine Gegenwelt, in der sie selbst die Kaiserin war – bis sie in dieser Welt verschwand.

Every heart 2 N.KlingerNadja Duesterberg und Sarah Zelt © N.Klinger

Dystopisch, aber nicht unrealistisch wirkt Naujoks’ Einfall, dass sich die Menschen der nahen Zukunft direkt mit dem Netz verkabeln, über Ports – 12 Anschlüsse werden in Maries Leiche gefunden. Bemerkenswert ist, dass Naujoks nur am Rande über VR erzählt und sie schon gar nicht dämonisiert, sondern als unendliche Fantasie-Maschine ernstnimmt. Virtualität ist ja nichts Neues. Es gibt sie, seit Menschen sich Geschichten erzählen von möglichen Welten. Jeder Roman ist virtuell. So gehört zu den nicht unbedeutenden Details von Naujoks’ Geschichte, dass Maries Lieblingsbuch Astrid Lindgrens "Brüder Löwenherz" war, jener Roman, in der der große Bruder dem todkranken kleinen Bruder mit Nangijala eine virtuelle Welt entwirft als höchst irdischen Himmel, in dem sich die beiden wiederbegegnen und sagenhafte Abenteuer bestehen – nur um am Ende in die nächste Welt (das nächste Level) überzusiedeln. Und das alles kraft der Fantasie, der Einbildung, die die Dinge (scheinbar) real werden lässt.

Zwischen Game-Level und âventiure

Auf angenehme Weise analog baut Naujoks mit Hilfe von Theda Schoppe (Kostüme und Visuals) auf der Bühne diese Welten zusammen, mit projizierten Schwarz-Weiß-Bildern wie aus einer Graphic Novel, einem Stern aus Neonröhren, mit Papprüstungen und Holzschwertern, Glitter- und Luftschlangenkanonen, einer Mischung aus Live-Bratsche und eingespielter Musik. Nadja Duesterbergs und Sarah Zelts Schwestern wechseln souverän zwischen Erzählen und Erleben, realer und virtueller Welt, die immer ununterscheidbarer werden. Man folgen ihnen gespannt in die Kellerräume von Maries Bewusstsein, ihren offenbar traumatischen Erlebnissen, in die VR-Gegenwelten mit all ihren Aufgaben zwischen Game-Level und âventiure. Irgendwann spielt es auch keine Rolle, ob die beiden gerade on- oder offline sind – sie brauchen ja nur die Augen zu schließen, schon sind sie in Maries Welt.

So erscheint es konsequent, dass es keinen Schluss gibt, sondern ihr Entschluss, es noch einmal gemeinsam mit Maries Welt aufnehmen zu wollen, der Staffelstab ist, den sie ans jugendliche Publikum weiterreichen. Was genau ist Maries Geheimnis? Wo ist sie versteckt? Wie gelangt man zu ihr? Was werden die Schwestern fragen, was wird Marie antworten? Genug Fantasie-Anregungen, um die Synapsen zu kitzeln – und das Publikum dazu anzuregen, eine neue Welt, ein neues Level entstehen zu lassen.

Every heart is built around a memory
von Markolf Naujoks
Regie, Bühnenbildkonzept und Sounddesign: Markolf Naujoks, Kostüme und Illustration: Theda Schoppe, Dramaturgie: Thomas Hof.
Mit: Nadja Duesterberg, Sarah Zelt.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Zum Essay über die Jugendstücke

 

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