Jagd auf die Friedenstaube

von Georg Kasch

Heidelberg, 2. Mai 2019. Ja, ist schon wieder Weihnachten? Weit wallen die Gewänder der fünf Darsteller*innen, die langsam an die Rampe kommen, als säßen wir im Krippenspiel. Und tatsächlich: Es sind Maria, Jesus und der heilige Geist (ein schräger Vogel, na klar), dazu der Allmächtige persönlich (eine Frau, versteht sich) und Mohammed. Besinnlicher als jetzt aber wird es nicht, dagegen spricht schon das Meer aus Schuhen, über das Trockeneis wabert.

Wer hier an die Shoah denkt, liegt richtig. Oliver Frljić, der Regisseur, der westlichen wie östlichen Gewissheiten gern mit der Brechstange zu Leibe rückt, demontiert in seinem "Nathan"-Projekt am Schauspiel Hannover den Mythos von Lessings Ringparabel-Happy-End. Wir erinnern uns: Nathan argumentiert die Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen mit der Geschichte des Vaters, der den Erbring perfekt kopieren lässt, um keinen seiner drei Söhne zu benachteiligen. Sie streiten dennoch, welcher das Original ist. Der Richter entscheidet: Im echten Ring liegt die Kraft, Gutes zu tun. Zeigt uns, was in ihm steckt!

Happy End ist möglich

Wie soll man daran glauben, nach Jahrhunderte währendem Antijudaismus und Antisemitismus, nach Kulturkämpfen ums Abendland, die immer nur dann unterbrochen werden, wenn’s ums Geschäft geht? Dass die Aufklärung und mit ihm Lessings Optimismus gescheitert ist, haben zwar schon Scharen von Germanist*innen und Dramaturg*innen festgestellt. Aber in diesem Jugendstück sitzen ganze Klassen und ihre Lehrer*innen, die noch die frohe Botschaft verkünden: Der Konflikt ist lösbar, wenn alle vor ihrer eigenen Haustür kehren.

nathan1 700 KarlBerndKarwaszAuf Hügeln aus alten Schuhen: Spiel mit dem Streithahn in "Nathan" © Karl-Bernd Karwasz

Dass es ganz so einfach nicht ist, zeigt Frljić, wenn er nach einer halbwegs komischen Eingangsnummer, in der die Figuren die Jugendlichen mit Lehrer-Bashing und Gras-Witzen abholen, sie aus dem Publikum Schuhe einsammeln lässt. Am Ende müssen die Schüler*innen sie sich selbst aus dem Chaos suchen. Welche sind die richtigen?

Dazwischen argumentieren sich die Spieler wild durch die Themenkomplexe: Dass Deutschland Israel (aber auch vielen anderen Ländern im Nahen Osten) in der Vergangenheit Waffen eben jener Firmen lieferte, mit deren Fabrikaten in der Shoah Juden umgebracht wurden, mündet im Refrain: "Vergesst die deutsche Wirtschaft nicht!" Die Friedenstaube wird gejagt, und geträumt von einer jüdisch-muslimischen Allianz gegen die Vereinnahmung des Judentums für die christlich-jüdische Kultur ("Wir haben zusammen Hummus und Falafel erfunden, das könnte eine Basis sein."). Vor diesen Karren wird auch der heilige Geist gespannt und mit Reclamheft-Seiten gefüttert.

Mit Waffen ins Publikum

Das Spiel mäandert von der jüngeren Geschichte über Fragen der Moral und Vernunft zum Vergleich von Krieg und Religion (beide bestärken einen darin, etwas zu glauben). Während am Ende Versöhnungs-Sonntagsreden aus den Lautsprechern flüstern, rekrutieren die Spieler im Publikum drei Gruppen von Glaubenskriegern. Sie lesen Sätze aus Lessings "Nathan" vor, in denen die Charaktere an der Parabel zweifeln – und zielen schließlich mit Waffen aufs Publikum.

Zwei Mal schon war Frljić beim Heidelberger Stückemarkt, 2014 mit dem Jugendprojekt Black Box Schule, 2016 mit Balkan macht frei. Beide Abende waren radikaler, zudem dramaturgisch dichter gestrickt. Zwar besitzt auch "Nathan" Momente, in denen einem Botschaften, Erkenntnisse, Provokationen um die Ohren knallen wie Schläge. Zu oft aber franst das aus, wirkt merkwürdig verstolpert. Schade. Denn ja: Die Aufklärung ist gescheitert. Um aus dieser Erkenntnis etwas Neues zu bauen, wäre es hilfreicher, mit einem Fußtritt aus dem Theater gekickt zu werden als mit einem Schulterzucken zu gehen.

Nathan
ein Projekt von Oliver Frljić nach Gotthold Ephraim Lessing
Regie und Bühne: Oliver Frljić, Kostüme: Sandra Dekanić, Dramaturgie: Barbara Kantel.
Mit: Johanna Bantzer, Beatrice Frey, Hannah Müller, Dennis Pörtner, Andreas Schlager.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhannover.de/


Zum Essay über die Jugendstücke.

 

 

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