Die giftige Praxis der Verschwörungstheoretiker

von Janis El-Bira

April 2019. Wer den Namen "Hen(n)och Kohn" bei Google eintippt, benötigt fortgeschrittene Impulskontrolle. Kann man dem Drang nicht widerstehen, im Reich brauner Hirngespinste noch die hinterletzten Wahnflecken sehen zu wollen, sollte man direkt auf einen dieser Abende gefasst sein, der einen auch an solche Orte trägt, die im Kopf vor allem eine Frage hämmern lassen: Wie um alles in der Welt bin ich hier gelandet? So zum Beispiel die Internetpräsenz des FOCUS – oder genauer dessen Kommentarspalten. Denn unter einem für Altkanzler-Fans ernüchternd anspruchslosen Durchklick-Quiz "Was wissen Sie über Helmut Kohl?" findet sich dort – seit gut drei Jahren unwidersprochen – als erster Kommentar der Hinweis eines Detlef K., dass Helmut Kohl bekanntlich der aus Galizien stammende Sohn jüdischer Eltern gewesen sei, der später viele Orden erhalten habe, die "NUR an juedischen Personen verliehen werden" (sic). Sein eigentlicher Name, klar: Henoch Kohn.

Wer sich dann noch fragt, wie so ein durchschnittlicher deutscher Detlef dazu kommt, im Brustton der Selbstverständlichkeit derlei Mumpitz zu veröffentlichen, kann die nächsten Stunden gleich ganz abschreiben. Denn allzu schnell liest man sich auf Wikipedia und anderswo durch ganze Jahrhunderte verschwörungstheoretischer Spinnerei, hört von der Vril-Gesellschaft und den beliebten "Reichsflugscheiben". Am Ende kann man noch froh sein, nicht bei den YouTube-Videos jenes mittlerweile millionenfach geklickten "promovierten Naturwissenschaftlers" ausgespuckt zu werden, der im Hinterzimmer einer Berliner Eckkneipe erklärt, wie man die schockgefrostete Führungsriege des NS-Regimes demnächst vom Stern Aldebaran heim ins Reich holen könnte. Oder so ähnlich.

deigner vitaBjörn SC Deigner @ Luise Voigt

Genau diese hohle Bubble der Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Aluhutträger und Rechtsesoteriker hat der Autor Björn SC Deigner nun in einem neuen Stück eingefangen. Sein Titel hat die erste Provokation bereits eingebaut. "Der Reichskanzler von Atlantis" heißt es und rekurriert damit unzweifelhaft auf Viktor Ullmanns Kammeroper "Der Kaiser von Atlantis", die in den Jahren 1943 und 1944 – und damit wenige Monate vor der Ermordung des Komponisten in Auschwitz – im KZ Theresienstadt entstand.

Wie Ullmanns Oper ist Deigners Stück ein Kammerspiel weniger, auf engstem Raum agierender Figuren. Und zumindest im weiteren Sinn verbindet ihn auch inhaltlich mehr mit dem "Kaiser", als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn beiden geht es um etwas Untotes, etwas, das einfach nicht vergehen will. Bei Ullmann sind das die Soldaten, die im Krieg aufgrund einer seltsamen Krankheit plötzlich nicht mehr sterben können. Erst als ihr Dienstherr, der Kaiser, mit dem Tod einen Deal eingeht und sich selbst freiwillig zuerst abberufen lässt, nimmt der Sensenmann seine Tätigkeit auch beim Fußvolk wieder auf. Leben und Tod werden am Ende der Oper wieder zweierlei. Für Ullmann war das Ausdruck einer bitteren Hoffnung an die Gegenwart, in der alles bloß noch auf Kredit zu leben schien, allzeit vom Tod umfangen.

Leichen wandeln auch durch Björn SC Deigners Stück. Als faulige Ideengerippe kommen sie aus dem tiefsten Sumpf deutscher (Un)Kulturgeschichte und plagen die Lebenden. So vor allem den selbsterklärten "Reichskanzler", Fürst Burkhard, der hier nicht in seinem Bunker, sondern auf dem Balkon eines Reihenhäuschens hockt und in Operettenuniform auf die Wiederauferstehung des deutschen Reiches wartet.

(Un)deutsches Ehepaar

Ihm zur Seite steht seine Frau Jutta, die nicht nur knusperflockige Croissants aufbackt, sondern über ihre Haarspitzen auch die unterirdisch generierte "Vril-Kraft" an ihn weitergibt – eine in rechtsesoterischen Kreisen vielbezeugte Energiequelle, frei erfunden jedoch dereinst von einem Autor, der heute vor allem noch für den schlechtesten ersten Satz der Literaturgeschichte bekannt ist ("Es war eine dunkle und stürmische Nacht.").

Und auch ein anderer Autor mit eher mauen Einfällen sitzt dem Reichskanzler gespenstisch im Nacken: Rudolf von Sebottendorf, sozusagen die kümmerliche deutsche Antwort auf Aleister Crowley, Hobby-Okkultist, Gründer der geheimen Thule-Gesellschaft und selbstverständlich Antisemit bis unter die Hutkrempe. "Der Feind hat viele Formen. Und viele Gesichter hat er auch. Er ist ein Meister der Täuschung", flüstert Sebottendorf dem Reichskanzler zu Beginn ein. Der greift sogleich zum Fernglas und hat diesen Feind schnell ausgemacht. Es muss der Nachbarshund sein, der sich soeben auf dem Grundstück des Kanzlers erleichtert hat.

Beklemmender Ideenreichtum

Doch ein Hundeschiss allein macht noch keine Weltverschwörung. Hier kann nur Hennoch Kohn selbst dahinterstecken, resümiert Fürst Burkhard. Überhaupt, dieser Kohn: "Verbündeter der Rothschilds zur Schwächung der Arischen Gemeinde. Kriegsgewinnler und Bilderberger. Vater von Angela Merkel und Volksverblender. Unter dem Namen Helmut Kohl um deine jüdische Vergangenheit zu verleugnen." Ein gewichtiger Gegner für den Reichskanzler – vor allem, weil er erfunden ist.

"Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung." Dieses Zitat Walter Benjamins aus "Erfahrung und Armut" hat Deigner seinem "Reichskanzler von Atlantis" vorangestellt. Benjamin sieht in guter kulturkritischer Tradition die "ungeheure Entfaltung der Technik" im 20. Jahrhundert als Ursache für eine gegenwärtige Erfahrungsarmut. Als deren Kehrseite macht Benjamin den "beklemmenden Ideenreichtum" aus, der mit der "Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder viel mehr über – die Leute kam". Auch für Deigners Figuren erstehen die Bewegungen und Ideen vergangener Zeiten nicht als Ganzes wieder auf, sondern mischen sich mit anderen Stimulanzien tröpfchenweise zu einem besonders giftigen Cocktail. Darin liegt eine grundsätzliche Gefahr der "Reichsbürgerbewegung", weil ihre Vertreter ideologisch kaum greif- und deshalb auch nicht mit erprobten Mitteln bekämpfbar sind. "Eigentlich haben wir mit Nazi-Pack nichts gemein", sagt der Reichskanzler im Stück. "Sehen Sie, die Nazis verstehen alles falsch. Sie ziehen die falschen Schlüsse aus der Geschichte. Das ist tragisch." 

Wir sind keine Nazis!

Deigners Figuren sind Antisemiten, ohne Nazis sein zu wollen, Aussteiger mit gepflegtem Eigenheim und Systemgegner mit gleichzeitig ausgeprägtem Hang zu Bürokratie und Paragraphenreiterei. Was sie vereint, ist der Glaube an einen inneren Zusammenhang der Welt, deren Regeln in ihren Augen nur einer diktiert: der global verschworene, das deutsche Volk unterjochende Jude.

Bei Deigner hat all das einen sauren Witz, weil sein Kanzlerehepaar dem herrschenden System und der jüdischen Weltverschwörung ähnlich piefig zu Leibe rücken will wie die realen Reichsbürger der Bundesrepublik mithilfe selbstgedruckter "Personenausweise". Schließlich ist der Deutsche immer dort ganz bei sich, wo er Ordnung schaffen kann. "Die Notzeit schuf den Deutschen", lässt Deigner Rudolf von Sebottendorf sagen. Jetzt ermächtigt er sich selbst – und beschließt als Ausdruck seiner neuen geschichtlichen Größe, fortan keine Einkommenssteuer mehr zu zahlen. Eine an der Tür klingelnde Gerichtsvollzieherin bekommt das später im Stück zu spüren. Als man auch in ihr die Verkörperung Hennoch Kohns vermutet, wird sie kurzerhand geknebelt und festgesetzt. "Der Staat will mich töten. Aber ich töte den Staat", erklärt die Frau des Kanzlers, während ihr Mann beim Eintreffen der Polizei seinen Revolver durchlädt. Man denkt an jenen Reichsbürger aus Nürnberg, der im Herbst 2016 einen Polizisten erschoss und will nicht mehr von Spinnerei sprechen, nicht länger über Reichsflugscheiben, Skalarwellen und Chemtrails lesen. Atlantis ist eine Fiktion. Aber auch die kann tödlich sein.

 

Lesung von "Der Reichskanzler von Atlantis" am zweiten Tag des Autor*innenwettbewerbs, Sonntag 28. April 2019, um 16:00 Uhr im Alten Saal

 

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