Gemeinsam einsam
von Sophie Diesselhorst
Heidelberg, 29. April 2019. Es gibt diese Bücher von Ursus Wehrli, "Kunst aufräumen" und "Die Kunst aufzuräumen". Im ersten nahm Wehrli berühmte Bilder berühmter Künstler auseinander und brachte Ordnung in die Elemente, im zweiten sortierte er profanere Gegenstände wie Buchstabensuppe (nach Alphabet), Pommes (nach Größe), Autos auf einem Parkplatz (nach Farbe). Auf der Bühne im Zwinger sieht’s am Anfang des Gastspiels von Julia Haennis "Frau im Wald" – vom Theater Marie im schweizerischen Aarau – so aus, als hätte Ursus Wehrli hier gewaltet. Schuhe, Stühle, Bücher sind fein nebeneinander aufgereiht, als sollten sie zum Appell antreten.
Ab und zu tief durchatmen
Die titelgebende Frau ist nicht im Wald, sondern in ihrem Kopf, wo sie mit sich selbst redet. Kann ein Monolog mehrere Stimmen haben? Jawohl. Und gleichzeitig. Vier der fünf Darstellerinnen, Julia Haenni eine von ihnen, sitzen anfangs im Publikum und verleihen dem schnellen Text Dolby-Surround-Sound. Die Ordnung der Wohnung auf der Bühne ergibt schnell Sinn, denn diese Frau sucht mit allen ihren fünf Persönlichkeiten nach Ordnung. Aber je hektischer sie dabei wird, je schneller sie sich im Kreis dreht, desto chaotischer wird das Bild, das ihre zehn Augen dabei aufnehmen.
Es wird noch schlimmer, als sie ihre Wohnung verlässt und die Außenwelt über sie hereinbricht. Das Auto ist weg, der Hase liegt tot vor der Tür – statt Brötchen zu holen, geht sie also zur Polizei, und Barbara Heynen, Julia Haenni und Silke Geertz steigern sich in fliegenden Rollenwechseln als Frau (hier in zwei Ausführungen) und Polizistin in einen virtuosen Souveränitäts-Wettbewerb hinein. Folgende mutmaßliche Tatsachen lassen sich erhaschen: Meier heißt sie, hat keinen LAP (Lebensabschnittspartner) und auch keine LAPin und wird von der Polizei schon nicht mehr ernst genommen, weil sich "solche Vorfälle bei Ihnen in letzter Zeit ja häufen". Dabei ist Meiers Mantra "Irgendetwas stimmt hier nicht" ja wohl einer der wahrsten Sätze, die sich sprechen lassen. Ein Satz, der sogar den fünf Sprecherinnen standhält, die jeden von Meiers Sätzen prüfen. Kein Wunder, dass sie ab und zu tief durchatmen, nach vorne starren und "1,2,3" zählen muss/müssen.
Ist "er" die Auflösung?
Julia Haennis Stück ist eine Feier der gespaltenen Persönlichkeit und ganz nebenbei eine Kampfansage an jegliche Identitätspolitik. Als die vier Darstellerinnen aus dem Publikum zu ihrer Kollegin auf die Bühne steigen, legen sie die wundervollsten Kostüme (Ausstattung: Tatjana Kautsch) an. Barbara Heynen schaut ins Publikum wie in einen Spiegel, als sie sich über ihr hellblaues Hängekleid noch ein bläulich schimmerndes transparentes Jäckchen zieht. Sandra Utzinger trägt ein Kleid mit weißem Tüllrock, in dessen Saum Blumen gefallen sind. Sie macht sich schön, sie macht sich schöner, sie macht sich am schönsten. Sie trotzt mit sich zusammen der kosmischen Unordnung. Und der Einsamkeit. Einsam kann nur eine sein, deshalb bleibt dieser Satz auch Vorsatz: "Ich hatte mir eigentlich vorgenommen wieder mehr Zeitung zu lesen um an der Welt teilzuhaben."
Je enger sie zusammenrückt, desto größer wird indes ihre Sehnsucht. Irgendwann verschwindet sie in der Box, die auf der Bühne steht, und träumt darin vom Wald. Dabei kommt sie zur innerlichen Ruhe, und die Action verlagert sich ins Äußerliche: Unterspannte Selbstgespräche werden begleitet von Live-Video-Bildern wilder Kämpfe im Wald, die Schminke ist akkurat verrutscht, und die Vorstellungskraft dann doch wieder schnell angeheizt. Denn Ruhe würde Entpersonalisierung bedeuten. Sie kann nicht voneinander lassen, sie würde auseinanderfallen.
Zum Schluss arrangieren sich die fünf Spielerinnen auf den Möbeln der zusammengeräumten Wohnung wie für ein Familienfoto und sprechen nacheinander weg die Beschreibung eines Alltags der Frau. Fast scheint's, als habe sie es geschafft Ordnung herzustellen. Ist "er", für den sie auch zwei Brötchen holt, obwohl sie eigentlich mal seine Sachen aus dem Schrank räumen müsste, die Auflösung? Hat sie "ihn" mit ihrem Auto überfahren – die Polizei kommt nämlich irgendwann auch zu ihr und verdächtigt sie, einen Menschen getötet zu haben. Oder ist "er" nur eine Fantasie? Eine Rache-Fantasie gespeist aus der Vergangenheit, oder eine hoffnungsvolle Richtung Zukunft, in der er vielleicht ein weiterer Teil von ihr werden könnte? Die Frau hat Geheimnisse, die sie mit radikaler Diversität beschützt. Es macht soviel Spaß, ihr dabei zuzuschauen, dass man gar nicht mehr wissen will, was "die Polizei" herausfinden würde. Irgendetwas stimmt hier.
Frau im Wald
von Julia Haenni
Regie: Patric Bachmann, Olivier Keller, Bühne: Dominik Steinmann, Erik Noorlander, Kostüme: Tatjana Kautsch, Video: Kevin Graber.
Mit: Judith Cuénod, Silke Geertz, Julia Haenni, Barbara Heynen, Sandra Utzinger.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theatermarie.ch