Der mit dem Knopf im Kopf
von Michael Wolf
Heidelberg, 3. Mai 2019. Wenn die Tochter zum ersten Mal ihren Partner nach Hause bringt, kann das für alle Beteiligten eine herausfordernde Situation sein. In Clemens J. Setz' Stück ist die Lage aber noch schwieriger als gewöhnlich. Denn Tinas Freund Matthias hat eine "Erinnya" im Ohr – ein technisches System, das ihm einflüstert, was er auf eine Frage antworten soll. Es hat ihm geholfen eine langjährige Depression zu überwinden, doch vor sozialer Ächtung schützt es ihn nicht. Die potenziellen Schwiegereltern sind wenig begeistert über Gesprächsbeiträge wie: "Wenn du einem Vogel-Strauß den Hals durchzippst. Vielleicht rennt er durch einen feinen Draht. Weißt du ja nicht."
"Erinnya" ist eine Komödie vor ernstem Hintergrund. Es geht um Außenseitertum, um den Einfluss von Technologie und tiefsitzende Widerstände gegen das Unbekannte. Tinas Eltern versuchen das System zu hacken, obwohl Matthias es offensichtlich zum Leben und Überleben benötigt. Am Ende verlässt er das Haus der Eltern und verschwindet in den Bergen. "Das ist kein Märchen. Das ist eine Geschichte darüber, wie Macht Mauern um unsere Fantasie errichtet", heißt es da im Text.
Virtuoses Gedankenexperiment
Setz' neuestes Stück fügt sich in sein schon jetzt umfangreiches Werk. Auch seine Erzählungen und Romane sind Plädoyers dafür, sich nicht mit der scheinbaren Eintönigkeit des Lebens zufrieden zu geben. Sein Themen sind oft düster, immer aber schillert seine Sprache. Setz vermeidet keine klischierten Formulierungen, man müsste ihn zu solchen zwingen. Hartnäckig weigert er sich, die Welt so zu beschreiben, wie jemand anders sie zuvor schon gesehen hat. Das hat ihm schon früh beides eingebracht: den Ruf eines Wunderkindes als auch den eines Sonderlings.
In ihrer Grazer Inszenierung vertraut Claudia Bossard der Virtuosität des Autors nicht. Die Bühne (ein kalter Glasbau mit automatischen Jalousien) lässt Realismus erwarten, das grelle Spiel des Ensembles will aber eher auf Knallchargentum hinaus. Nico Link könnte ein besorgter Vater oder fieser Schwiegervater sein; aber weder Wut noch Sorge überträgt sich, wenn er seine Tochter zur Trennung drängt oder Matthias mit Medizinbällen bedroht. Seine Gattin Tamara Semzov gibt mit lila Perücke die Diva der Vorstädte und hat außer Insiderwitzen zum Schauspielerdasein erstaunlich wenig zu sagen.
Albern wie Mr. Bean
Alex Deutingers Matthias hat seinen Auftritt im Publikum. Unerwartet leuchtet ein Spot auf, er klettert zur Titelmelodie der Serie Mr. Bean auf die Bühne und spielt für den Rest des Abends ebenjenen Mr. Bean. Er schlackert mit den Beinen, zieht sich ein Huhn über das Gesicht und erschreckt die Eltern. Er fragt eine Toilette, ob er in sie eindringen dürfe und steckt freudig seinen Kopf in die Schüssel. So beginnt ein zu langer Sketch und endet ein durchaus interessantes Gedankenexperiment.
Es gibt einen Grund, warum Mr. Bean kaum mehr als eine Hand voll Wörter spricht. Und es gäbe gute Gründe, Matthias eben nur in seiner Sprache als unnormal und abweichend zu zeigen und nicht auch noch in seinen Handlungen. So bleibt er eindimensional, nichts als ein Verrückter, ob nun von den Stimmen in seinen Ohr gesteuert oder nicht. Wie viel Fantasie das Stück verträgt, mögen kommende Inszenierungen zeigen.
Erinnya
von Clemens J. Setz
Uraufführung
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Frank Holldack, Kostüme: Elisabeth Weiß, Komposition: Jan Christoph Godde, Dramaturgie: Martin Baasch.
Mit: Alida Bohnen, Alex Deutinger, Nico Link, Tamara Semzov, Susanne Konstanze Weber, Martina Zinner.
Dauer: 1 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Zur nachtkritik der Uraufführung in Graz im November 2018