Dürresommer einer Dorfgesellschaft

von Sophie Diesselhorst

Heidelberg, 26. April 2019. "Aber die Drift, die wird jeden Tag stärker. Es kommen schon die ersten Touristen." So beendet der Ausflugslokalskellner Johann (Olaf Weißenberg) den Abend, allein rauchend vor seinem "Seekrug". Wie am Anfang, bevor er für anderthalb Stunden unterbrochen wurde, von Gästen und anderen Ereignissen. Johanns Schlusspointe sitzt trotzdem: Das Kaff am Meer, in dem sich sein Lokal befindet, ist Provinz, die ihre letzten Reize selbst ruiniert hat. Die Touristen bleiben weg, weil die Kläranlage bis in ihre Ferienwohnungen stinkt. Aber die Erosion der Küste, also die existentielle Bedrohung des Grunds, auf dem das Kaff gebaut ist, rückt das Dorf wieder in die Nähe einer Aufmerksamkeit von außen, nämlich in die der Katastrophentouristen.

Wie das Gefühl, abgehängt zu sein, die Kaff-Anwohner*innen in den Wahnsinn treibt, davon handelt die Unterbrechung von Johanns Monolog, davon handelt Ulrike Syhas "Drift", das beim Autor*innenwettbewerb 2018 ausgezeichnet wurde und dessen Uraufführung in der Regie von Gustav Rueb nun den diesjährigen Stückemarkt eröffnet hat.

Selbsternannter Volksfeind

Die Ereignisse in "Drift" sind gründlich entkoppelt davon, wie die Figuren sie erleben. Während ihre Küste ins Meer rutscht, sitzen die dramatis personae im "Seekrug" und unterbrechen einander in immer absurderen Versuchen, sich einen Reim auf die Wirklichkeit zu machen. Als "Mitte der Gesellschaft" vermitteln die "drei Damen mit Haltung" Agatha, Almuth und Claire den Dorfklatsch. Alles dreht sich um den Architekten Friedrich, der vor Jahrzehnten aus der Stadt im Kaff hängenblieb und die Erbin des Hotels "Zur Krabbe" heiratete. Sie ist nun bei einem Unfall ums Leben gekommen, der sich später als Selbstmord entpuppt. Ein Mord ist auch noch geschehen, aber dieser Krimi spielt nur eine Nebenrolle.

Drift 2226 700 Sebastian Buehler uAussitzen der kleinen Dorfgesellschaft: bald kommen die ersten Katastrophentouristen, die Außenwelt spricht aus den Kameras
© Sebastian Bühler

Denn was die Gemüter eigentlich erregt, ist Friedrichs Mission als selbsternannter Volksfeind Unwissende aus der Stadt davon abzuhalten, sich in dem bröckelnden Ort Ferienhäuser zu bauen. Ein Tourismuskonzept, das Friedrich zusammen mit Ehefrau Nummer zwei selbst erarbeitet hat. Jetzt rennt er dagegen an. Im "Seekrug" zapft er sich ein Bier nach dem anderen selbst und redet enthusiastisch den Untergang herbei.

Der Untergang ist zugleich der Weltuntergang, denn wie man aus diesem Ort wegkommt, das weiß hier keiner, auch Friedrichs halbwüchsiger Sohn nicht, der als einziger hier "mit dem Internet redet" und von sich selbst nur in der dritten Person, denn er will sich entindividualisieren um Platz für eine revolutionäre Bewegung zu machen. Seine rhetorischen Windungen übersetzt Daniel Noel Fleischmann in komische Verrenkungen einer eigenen Ganzkörper-Gebärdensprache. Auch Friedrich (Marco Albrecht) weiß schon lange keinen Ausweg mehr, Bühnen- und Kostümbildner Peter Lehmann hat ihn genauso wie alle anderen Einwohner*innen ganz in weiß gekleidet, was ihre unschönen Sonnenbrände noch unterstreicht. Es war wohl wieder ein Dürresommer.

Überwachungskamera im Krähwinkel

Die einzige, die es weg geschafft hat, ist Friedrichs Ehefrau Nummer drei, bei Ulrike Syha "Die Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte". Regisseur Gustav Rueb nimmt das in seiner Inszenierung wörtlich und zeigt sie nur schemenhaft, Lisa Försters Gesicht sieht man erst beim Applaus. Vorher stapft sie im Videobild, das auf die Rückwand des "Seekrugs" projiziert wird, im gelben Südwester durch den Ort und sucht ihre Vergangenheit auf: die Mutter, die Schwester, den Schulfreund. Alle in weiß mit verbrannten Gesichtern, alle erstarrt im letzten Lebensentwurf, an den sie sich gerade noch so erinnern können.

Auch in diesen kleinen Szenen hat Ulrika Syha ihre Pointen fein gesetzt. Immer gerade dann, wenn das Beziehungsgeflecht unübersichtlich wird, die Lokalposse langweilig zu werden droht, wird die Komplexität als Scheinkomplexität entlarvt. Das ist also die Mutter, die gleichzeitig die Schwester des Bürgermeisters ist, mit dem Friedrichs zweite Frau durchgebrannt hat, was vielleicht auch einen Anteil an seiner Weltuntergangs-Mission hat.

Drift 2684 700 Sebastian Buehler uDie weiße Kleidung unterstreicht noch die Sonnenbrände der drei Frauen, Architekt Friedrich und des Seekrugkellners Johann, v.l.n.r: Christina Rubruck, Daniel Noël Fleischmann, Nicole Averkamp, Marco Albrecht, Olaf Weißenberg © Sebastian Bühler

"Die Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte" kommt also von außen und nimmt die Position einer Dokumentarfilmerin ein, deren Auftrag ihr selbst nicht ganz klar ist. Ist sie zurückgekehrt? Oder nur zu Besuch? Das, sagt sie selbst, weiß sie selbst nicht. Warum genau ist sie weggegangen? Und wohin? Diese Fragen werden nicht beantwortet, verblassen aber auch zunehmend, denn die Tristesse, die "Die Frau, die..." erzeugt, indem sie die Kamera auf das Dorf richtet, verschluckt sie selber. Am Ende bleibt sie, um auf Friedrich zu warten – den höchstwahrscheinlich das einstürzende Kliff unter sich begraben hat.

Trugschlüsse und Lebensweisheiten

Ihre Kamera steht für den Aufmerksamkeits-Trugschluss. Und auch die Überwachungskamera im "Seekrug", die Claire, einer der Damen aus der "Mitte der Gesellschaft", anruft als Quasi-Gottheit: "Die Kamera beschützt uns auf all unseren Wegen, sie ist für uns da – irgendeine Kamera läuft immer!“ Lieber überwacht werden als abgehängt sein. Die Lebenswelten in der Stadt und auf dem Land driften im politischen Gespräch immer weiter auseinander. Parabelhaft verbindet Ulrika Syha dieses Problem mit der Abstraktion, die das Thema Klimawandel für uns hat in diesem – immer kleiner werdenden – Teil der Welt, der noch nicht unmittelbar unter seinen Folgen leidet. Gustav Ruebs Inszenierung und die Spieler*innen folgen ihr im genauen Blick auf die Figuren, der die Geschichte zum Leben erweckt. Nicht immer gelingt der Sprung zwischen Film- und Live-Ebene (im "Seekrug") elegant, manchmal wird die Tristesse in vorauseilendem Gehorsam zäh.

Aber dann kommen wieder die Jogger. Sobald sie die Szene entern, verstummen alle Gespräche, so wie Ulrike Syha es in ihrer Regieanweisung vorgesehen hat: "Die Anwesenden blicken ihnen andächtig hinterher." Sie sind die einzige höhere Realität, auf die alle sich einigen können. Und die daher auch nicht vom Gespräch angetastet wird, als müsste ihre Weisheit dadurch bröckeln wie die Küste in der Drift. Die Jogger, sie bleiben in Bewegung – obwohl sie immer nur im Kreis laufen.

 

 

Drift
von Ulrike Syja
Uraufführung
Regie: Gustav Rueb
Bühne und Kostüme: Peter Lehmann, Video: Alexander Ebeert, Dramaturgie: Maria Schneider.
Mit: Marco Albrecht, Olaf Weißenberg, Daniel Noel Fleischmann, Christina Rubruck, Elisabeth Auer, Nicole Averkamp, Lisa Förster, Jogger*innen: Edith Brandt-Bachmann, Olga Gruban, Helen Hosefelder, Henner John, Tilo Jung, Laura Puccio, Frank Thieße, Natalia Tortorici, Sebastian Johannes Zeller.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de

 

Zum Stückporträt von "Drift" aus dem Vorjahr

 

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