Spiel mit dem Feuer
von Verena Großkreutz
Heidelberg, 4. Mai 2019. Trotz eingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit, Überwachung, drohender Inhaftierung und anderen Formen staatlicher Unterdrückung gibt es in der Türkei eine lebendige, pulsierende Theaterszene. Einen Einblick in die Lebensrealität Theaterschaffender bietet seit gestern und nun schon zum zweiten Mal nach 2011 der Länderschwerpunkt Türkei des Heidelberger Stückemarkts. Für das Publikum eine einzigartige Möglichkeit, sich über die Darstellungen in den Medien hinaus ein differenzierteres Bild von der Gesellschaft dieses Landes zu verschaffen.
Die drei Stücke der türkischen Theaterautor*innen, die um den Internationalen Autor*innenpreis wetteifern, zeigten sich deutlich politisch, nehmen sie doch aktuelle gesellschaftliche Probleme aufs Korn – globale Horrorszenarien, staatliche Regressionen, Gewalt gegen Frauen, eine neue Art des Fremdenhasses.
Bombenexplosionen überall: "Das Feuer in mir" von Halil Babür
Gleich fünf unterschiedliche dystopische Episoden umfasst "Das Feuer in mir" von Halil Babür, Jahrgang 1987. Protagonist*innen sind das Paar Derya und Umut sowie seine Eltern Julia und Fabien. Sie treffen in immer neuem Umfeld, zu unterschiedlichen Zeiten, in neuen Konstellationen aufeinander. Verbunden werden die Episoden nicht nur durch dieselben Personen, sondern auch durch das bedrohliche Element Feuer.
Vieles wird nur angedeutet, lässt Platz für Assoziationen und eigene Interpretationen. Zu Beginn sieht man Derya und Umut im Bett diskutieren. Offenbar leben sie in einem Überwachungsstaat, halten sich gerade in Deutschland auf ("der kältesten Stelle der Hölle") und damit außerhalb ihres Landes, das von einer verheerenden Feuerkatastrophe heimgesucht wird.
Derya und Umut gehören einer Terrorgruppe an, die Brände legt, um auf das Schicksal ihres Landes aufmerksam zu machen. Denn: "Europa schaut zu." In einer anderen Szene laden beide Umuts Mutter zu einem festlichen Essen ein. Es herrscht offenbar Krieg und Hunger, im Hintergrund hört man Bomben explodieren. Die Familie gehört zu den Privilegierten, redet darüber aber nicht. Makaber wird es, wenn die Mutter eröffnet, Deryas Leber komme in Frage als Organspende für den todkranken Vater Fabien. Derya weigert sich, sie sei schwanger. Doch unter dem wachsenden Druck der Mutter und Umuts willigt sie ein. Eine gewaltige Bombenexplosion beendet die Episode. Weitere apokalyptische Szenerien: Derya und Umut beobachten von einem anderen Planeten aus die Zerstörung der Erde, was Derya leugnet, sie deutet die Explosion als Freudenfest. In der finalen Episode leben beide offenbar in einer von Überbevölkerung und Ressourcenknappheit gebeutelten Gesellschaft, in der Suizid als Heldentat gilt. Von „Selbstmord“ darf man aber nicht sprechen, man nennt es "Verzicht". In einer Talkshow spricht Derya von ihrem geplanten "Verzicht", später stellt sich heraus, dass sie den Sprengstoff bereits am Körper trägt. "Das Feuer in mir" ist ein starkes Stück. Er wolle darin keine Antworten geben, sagt Babür, sondern nur Fragen stellen. "Was wird aus uns, wenn sich das Umfeld ändert?"
Widerstand der Frauen: "Gefüllte Weinblätter mit Ruß" von Fatma Onat
Baut "Das Feuer in mir" auf ausgefeilte Dialoge, so ist "Gefüllte Weinblätter mit Ruß" von Fatma Onat ein eher monologisches Stück. Weswegen man das Drei-Personen-Stück auch problemlos von einer Frau spielen lassen könne, sagt die Autorin nach der Lesung im Gespärch. Die Solidarität zwischen Frauen sei teilweise so eng, dass ihnen „das Individuelle“ abhanden komme. So könne eine Frau auch für viele sprechen. Es geht in Onats Stück um männliche Gewalt, die für viele Frauen in der Türkei Alltag ist und für manche oft auch tödlich endet. Erschlagen aus Eifersucht oder weil sie sich scheiden lassen wollten.
Das Stück spielt in einer Art Frauenhaus, wohin sich drei Frauen vor der Gewalt und den Demütigungen ihrer Männer geflüchtet haben: Yaprak, ihre ältere Schwester und ihre Freundin Refika, die von ihrem Vater gezwungen wurde, über glühenden Kohlen zu gehen, um ihren Widerstand gegen eine Zwangsheirat zu brechen. Beschrieben wird die Angst, die Alltag im Leben dieser Frauen ist, aber auch die grenzenlose Solidarität untereinander, aus der die Hoffnung auf eine bessere Welt erwächst, und aus der Yaprak die Kraft zieht für mutiges Eingreifen: "Zu zweit sind wir unermesslich stark!" Bild für diese innige Gemeinschaft ist das gemeinsame Anrichten eines Gerichts, gefüllte Weinblätter, mit dem auch die Autorin prägende, positive Kindheitserinnerungen verbindet: Frauen kommen zusammen, rollen Weinblätter mit ihren Händen und reden über das Leben, ihre Träume, über Politik. Während Yapraks Schwester spricht, hört sie immer wieder in einen TV-Live-Bericht hinein: Ein Frau wird vermisst, von der Polizei gesucht, und die Medien helfen kräftig mit. Vermutlich ist es jene Frau, die sich mit ihrem Kind in dasselbe Frauenhaus geflüchtet hat.
Sündenbock-Suche: "Der Gast" von Ömer Kaçar
In "Der Gast" von Ömer Kaçar (*1990) wird das Publikum zum Komplizen. Wird das Stück inszeniert, können die Schauspieler*innen das Publikum an der Türe empfangen und es bitten, doch am familiären Esstisch Platz zu nehmen. Das schön absurde Stück behandelt ein schweres Thema auf leichte Weise. Die Dialoge sind aus kurzen knackigen Sätzen in schnellem Wechsel gebaut, sind pointenreich und mit viel "Stille" gewürzt. Das Geschehen findet am Esstisch statt: Vater, Mutter, Sohn, verwoben in einem Alltag voller Lebenslügen, malträtieren sich verbal, einig nur im Bemühen und dann Bekämpfen des Fremden, der bei ihnen unaufgeforderte eingezogen ist. Er ist stumm, kommuniziert nur durch Kopfnicken. Sie nennen ihn "Lalo". Lalo müsse nicht von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin gespielt werden, schreibt Kaçar. "Er könnte auch ein Gegenstand sein."
Aus den Dialogen geht bald hervor, dass es im Haus ein "Gästezimmer" gibt, das seit 20 Jahren niemand von innen gesehen hat: Weil das Zimmer als Versteck für ein Tafelgeschirr dient, das angeblich so viel wert sei, wie ein "vierstöckiges Mehrfamilienaus". Und plötzlich ist dieses vermeintliche Kapital verschwunden. Es dauert nicht lange, da fällt der Verdacht auf den unschuldigen Lalo. Die Familie macht daraus eine krass erlogene Mordsstory, die sie medienwirksam in die Öffentlichkeit bringt. Da ist aus dem vermeintlichen Dieb ein Terrorist geworden, "der in seinem eigenen Land wie ein König lebte, ein weiteres vierstöckiges Mehrfamilienhaus kaufen und nach Europa fliehen wollte."
Kaçar thematisiert in seinem kurzweiligen Stück "eine neue Art von Fremdenfeindlichkeit", die er seit 2010 beobachte, wie er sagt. Erst würden "die Fremden" willkommen geheißen, "kleinste Sachen" hätten dann immer stärker sich potenzierende Wut und Hass zur Folge. Nicht nur Geflüchtete, auch anders Denkende und Lebende würden ohne Beweise an den Pranger gestellt, wenn es darum ginge, einen Schuldigen für eine Prügelei, einen Diebstahl, einen Mord zu finden. Es seien immer die "anderen, Fremden, die nicht zu uns gehören" schuld.
Das Feuer in mir
von Halil Babür
aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Recai Hallaç
Gelesen von: Marco Albrecht, Sophie Melbinger, Christina Rubruck, Jonathan Schimmer.
Gefüllte Weinblätter mit Ruß
von Fatma Onat
aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Recai Hallaç
Gelesen von: Nicole Averkamp, Johanna Dähler, Katharina Quast.
Der Gast
von Ömer Kaçar
aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Recai Hallaç
Gelesen von: Nicole Averkamp, Hendrik Richter, Andreas Seifert, Martin Wißner.