Volle Fahrt Richtung Untergang
von Georg Kasch
Heidelberg, 1. Mai 2019. Es fährt kein Zug mehr nach Nirgendwo. Eben noch raste der ICE mit seinen plappernden Passagieren und ihren Wohlstandsproblemen an sämtlichen Bahnhöfen vorbei; nicht mal die Notbremse kann ihn stoppen. Plötzlich: Schluss. Erst lässt Arne Lenks "singender kondukteur", also: der Zugbegleiter, leise den Schnee auf den kleinen Pappzug rieseln, dann erledigt er ihn mit einem Tritt, um später alle Passagiere einzeln umzunieten: "wo wollten wir denn einmal hin wo wollten wir denn einmal ankommen wir sind doch einmal auf gebrochen um irgendwo anzukommen aber wer bitte schön wollte denn jemals hier ankommen“.
So geht der Sound in Thomas Köcks Stück "paradies spielen (abendland. ein abgesang)", dem dritten Teil seiner Klimatrilogie. Der erste war 2015 im Autor*innenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts und wurde 2016 mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet. In der Mannheimer Uraufführungsinszenierung gewann "paradies spielen" 2018 den Mülheimer Dramatikerpreis, Köck wurde im selben Jahr in der Kritikerumfrage von Theater Heute (gemeinsam mit Enis Maci) zum Nachwuchsautoren des Jahres gewählt.
Köcks Lesefrüchte, auch seine theoretische Beschlagenheit haben ihren Niederschlag noch in allen seinen Stücken gefunden, die ihre rhythmisch eng miteinander verwobenen Motive zu einem nicht geringen Teil aus Romanen, Musikstücken, Filmen, Essays und den Nachrichten beziehen. Verwandelt und zusammengeführt werden sie von einer ausufernden, kraftvollen Sprache, die Köck immer wieder durch Metrik bändigt.
In "paradies spielen" verwebt er neben dem Chor drei Handlungsstränge und Situationen: Ein "ich" denkt über seinen Vater nach, der versucht hat, sich selbst zu verbrennen und nun im Krankenhaus liegt. Zwei chinesische Wanderarbeiter machen sich auf nach Italien, wo sie allerdings auch nur vom Regen in die Traufe kommen und in einer chinesischen Fabrik illegal und unter unzumutbaren Bedingungen Kleidung "made in Italy" herstellen. Und dann sind da noch jene fünf plappernden Reisende, die zu lange nicht merken, dass sie auf den Abgrund zurasen. Man muss nicht lange rätseln: Das sind natürlich wir, die über unsere und des Planeten Verhältnisse leben. Und niemand stoppt den Zug.
Starkes Signal
Dass "paradies spielen" Teil des Auftaktwochenendes von Bettina Jahnkes Potsdamer Intendanz war, ist ein starkes Signal. Weniger, dass es in der Reithalle inszeniert wurde, der Nebenspielstätte. In der Vorrede zum Stück schreibt der Autor: "überlegen sie dreimal bevor sie ins eigene verderben und auf die kleine bühne mit dem text laufen als alternative gehts nämlich immer auch im großen haus wenn das aus welchen gründen auch immer eher schwierig ist dann gern auch in der oper ich habe da keine einwände".
In Heidelberg läuft die Inszenierung wiederum im mittelgroßen Alten Saal, und man merkt, wie sehr die Potsdamer Schauspieler mit der Akustik kämpfen. Dass die Inszenierung nicht so recht vom Fleck und über die Rampe kommt, liegt aber schon auch an Moritz Peters’ Regie. Schräg ragen schwarze Platten von links und rechts auf die Bühne (im Text ist von Sedimenten die Rede), hinten gibt’s ein Portal, oben erscheinen friesgleich Bilder: der Raub der Europa, Schiffscontainer, Müllberge, Grenzanlagen.
Hier mühen sich die Schauspieler mal chorisch, mal einzeln mit Köcks Textmassen, die sich auch mal überlagern, vor allem aber: rauschen. Selten werden sie plastisch, widerständig. Am ehesten noch mag man den Wanderarbeitern Laura Maria Hänsels und Jon-Kaare Koppes folgen. Man spürt, dass Köcks Text erste Kräfte braucht, um den Mahlstrom an Gedanken und Assoziationen zu bändigen, die beißenden Erkenntnisse klar ins Parkett weiterzureichen, das Pathos durch Wärme zu beglaubigen. Vielleicht hätte man in Potsdam das Stück an eine Oper weiterreichen sollen.
paradies spielen (abendland. ein abgesang)
von Thomas Köck
Regie: Moritz Peters, Bühne und Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik und Sounddesign: Marc Eisenschink, Dramaturgie: Bettina Jantzen.
Mit: Jonas Götzinger, Laura Maria Hänsel, Jon-Kaare Koppe, Arne Lenk, Philipp Mauritz, Franziska Melzer, Ulrike Beerbaum.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.hansottotheater.de/
Mehr zu Moritz Peters' Inszenierung im Nachspielinterview.