Texte mit mehr Konzentration

Heidelberg, 1. Mai 2019. Am Sonntag endet der Heidelberger Stückemarkt mit der Vergabe des Autor*innenpreis. Als Ulrike Syha im vergangenen Jahr gewann, erinnerte sie in ihrer Dankesrede, dass der Preis als Nachwuchsförderung gelte, aber auch Nachhaltigkeit förderwürdig sei. Was tut sich in der Hinsicht, was ist der Stand bei der zeitgenössischen Dramatik, was für Stücke werden geschrieben? Darüber sprachen die nachtkritik-Redakteurinnen Sophie Diesselhorst und Simone Kaempf mit Katrina Mäntele, künstlerische Produktionsleiterin, und Holger Schultze, künstlerischer Leiter des Festivals und Intendant des Theaters Heidelberg.

nachtkritik.de: Am Sonntag wird die Jury bekannt geben, wer in diesem Jahr den Heidelberger Stückemarkt erhält. Sechs Autor*innen wurden eingeladen, aus 96 Bewerbungen. Welche Tendenzen ließen sich aus den eingereichten Stücken ablesen?

Holger Schultze: Die großen ästhetischen Innovationen kamen nicht unbedingt vor, etwa neue Sprachformen oder andere Experimente. Generell herrscht aber Themenvielfalt, von sehr politisch bis sehr privat ist alles dabei.

Katrina Mäntele: Die Themen sind wirklich sehr divers. Strukturell ist auffällig, dass die Stücke für kleine Besetzung überwogen. Da fragt man sich natürlich – liegt das daran, dass die Autoren sonst keine Bühne mehr finden?

Holger Schultze: Auf der anderen Seite haben wir bei der Sichtung für Gastspiel-Rahmenprogramm schon viele Arbeiten gefunden, die auf großen Bühnen spielen. Die großen Inszenierungen deutschsprachiger Dramatik gibt es ja schon.

Katrina Mäntele: Stefan Bachmanns Inszenierung aus Köln, Jelinek ist natürlich eine Besonderheit. "Verteidigung der Demokratie" vom Wiener Volkstheater, Toshiki Okada aus den Münchner Kammerspielen. Allerdings sind das beides Produktionen, die maßgeschneidert wurden für die jeweilige Bühne, während die Stücke, die im Wettbewerb stehen, am Schreibtisch der Autor*innen entstanden sind.

nachtkritik.de: Viele der Gastspiele sind Stückentwicklungen, Recherchetheater oder entspringen kollektiver Autorenschaft. Denken Sie darüber nach, den Autor*innenwettbewerb für andere Arten von Autorenschaft zu öffnen?

Holger Schultze: Prinzipiell sind wir offen, zu reagieren.

Katrina Mäntele: Wir diskutieren viel darüber, wie wir den Autor*innen-Wettbewerb verändern können. Ein wichtiges Kriterium, das wir haben, ist ja aber, dass die Texte noch nicht uraufgeführt sind. Die kollektiven Arbeiten sind schon uraufgeführt, die fallen schon mal raus.

nachtkritik.de: Welche Kriterien sollte das Siegerstück am Ende erfüllen?

Katrina Mäntele: Das ist immer ein bisschen gemein, weil man ja auch einen Favoriten hat...

nachtkritik.de: Man könnte sich zum Beispiel eines für die große Bühne wünschen

Holger Schultze: Das haben wir ehrlich gesagt gar nicht in der Auswahl. Es gab Stück-Jahrgänge mit Riesen-Personage, aber dieses Mal nicht. Ich glaube da auch an die Freiheit der Jury, die am Ende auswählt. Ich persönlich finde am Ende immer Stücke mit einer gesellschaftlich-politischen Relevanz am spannendsten.

Stuema19b Eroeffnung 700 SBEröffnung des Heidelberger Stückemarkts, vorne spricht Holger Schultze © Sebastian Bühler

nachtkritik.de: Im Autor*innen-Wettbewerb stehen wieder sechs Autoren. Darunter ist mit Magdalena Schrefel eine Autorin, die schon einmal eingeladen war. Im vergangenen Jahr gewann mit Ulrike Syha eine Autor*in, die zum zweiten Mal dabei war. Sind Wiedereinladungen eine Möglichkeit, Autoren zu fördern?

Katrina Mäntele: Das ist der große Wunsch. Nur weil jemand schon einmal dabei war, warum sollte man ihn nicht auch ein zweites Mal einladen? Wir haben aber bisher niemanden nominiert, der schon mal gewonnen hat.

nachtkritik.de: Als Ulrike Syha im vergangenen Jahr den Autor*innenwettbewerb gewann, machte sie in ihrer Dankesrede zum Thema, dass der Preis als Nachwuchspreis gilt, aber auch kontinuierliche Arbeit förderungswürdig sei und jeder, der hauptberuflich schreibt, wisse, dass es nicht einfacher wird.

Holger Schultze: Der Heidelberger Autor*innenpreis ist ein Nachwuchspreis. Ulrike Syha beweist aber gerade, dass wir versuchen, offen mit dem Begriff umzugehen. Wie überlebt man als Dramatiker eine lange Zeit? Mal hat man Erfolg, dann weniger, klar ist das ein großes Thema. Wir können nur hoffen, das der Autor*innenpreis auch denen, die schon länger dabei sind, einen neuen Schub bringt.

nachtkritik.de: Seit ein, zwei Jahren ist die Debatte um die Wichtigkeit des Nachspielens als Förderinstrument leiser geworden. Nachgespielt wird aber nicht mehr als früher. Wenn man Autoren darauf anspricht sagen sie, dass man sich damit abgefunden hat.

Katrina Mäntele: Ja. Für uns heißt das, gute Nachspiel-Inszenierungen zu finden, die nicht nur von durchgesetzten Autoren stammen. Das ist nicht einfach. Oft sind das auch nur drei oder fünf Vorstellungen und dann ist so ein Abend wieder abgespielt. Vielleicht ist das Nachspiele auch deswegen so schwierig, weil neue Dramatik nun mal aktuell ist. Wenn man aktuelle Ereignisse aufgreift oder spezifisch beschreibt, sind sie nach kurzer Zeit so auch nicht nachspielbar.

Stuema19a Eroeffnung 700 SBKatrina Mäntele © Sebastian Bühler

nachtkritik.de: Ein großer Trend sind Überschreibungen. Beim Stückemarkt findet man sie vor allem bei den Jugendstücken: Iason, "Nathan" … auch Daniel Rattheis Jugendstück im Autor*innenwettbewerb Werther in love ist eine Überschreibung.

Katrina Mäntele: Wir haben soviele Überschreibungen für den Jugendstückepreis geschaut, dass wir im Grunde auch drei Überschreibungen nominieren mussten. Ein Grund für den Überschreibungs-Trend im Jugendtheater ist sicherlich die Frage, wie bekommt man als Theater ein junges Publikum? Man bekommt es über Schulen, wo klassische Stoffe im Lehrplan stehen. Die Theater und Autor*innen versuchen in der Hinsicht zu vermitteln, weil die Klassiker für junge Menschen nicht immer einfach sind. Daniel Ratthei hat es in der Diskussion nach der Lesung seines Stücks ja auch gesagt: Zugang finden, wie bekommt man den Werther in die heutige Zeit.

Holger Schultze: Und es ist sicher auch der Versuch, die Historie mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen. Überschreibungen sind super Modelle dafür.

nachtkritik.de: Wenn Überschreibungen immer mehr im Kommen sind, auch im Erwachsenentheater, dann verändert sich die Rolle des Autors, oder?

Katrina Mäntele: Ja auf jeden Fall, das ist dann fast die Rolle des Übersetzers.

Holger Schultze: Das Autorenmodell am Theater verändert sich eh gerade.

Katrina Mäntele: Eigentlich sind die Autoren, die sehr präsent sind, immer solche, die eng in Verbindung mit einer Bühne stehen. Welche Autoren fallen uns ein, die wirklich sehr präsent sind und im stillen Kämmerlein arbeiten?

nachtkritik.de:  Wolfram Lotz … der ja in seiner Hamburger Poetikvorlesung gegen das Auftrags-Schreiben plädierte ...

Katrina Mäntele: Elfriede Jelinek …

HoIger Schultze: Es gibt verschiedene Modelle, die gut integriert sind. Aber ich will nochmal die Überschreibungen thematisieren, weil die wirklich etwas Neues machen.

Katrina Mäntele: Ja, Überschreibungen stehen sicher auch für einen neuen Umgang mit dem Kanon, der in den letzten Jahren entstanden ist. Vielleicht möchte man damit auch als Theater das Bildungsbürgertum so ein bisschen dekonstruieren.

Holger Schultze: Man hat eine Zeitlang überlegt, wie man fürs Theater neue Themen generieren kann, dabei kamen vor allem Romanbearbeitungen heraus. Jetzt bieten Überschreibungen Relevanz für ein breiteres Publikum. Das Theater setzt nicht wie vor 20 Jahren nur auf Autoren. Da steht ganz viel nebeneinander, das ist das spannende. Nichts ist besser und schlechter als das andere, alles hat seine Berechtigung. Wir sollten aufhören uns zu der oder der Form zu bekennen und uns stattdessen Formenvielfalt auf die Fahnen schreiben – und die auch noch mehr abbilden im Theater.

nachtkritik.de:  Wie könnte diese Formenvielfalt noch stärker gefördert werden?

Katrina Mäntele: Wir als Fünf-Sparten-Haus sind schon weniger flexibel als ein kleines Ein-Sparten-Haus, wenn es darum geht direkt zu reagieren oder sich viel Zeit zu nehmen für ein Rechercheprojekt...

Holger Schultze: Ich glaube, das geht alles absolut auch im Stadttheater. Das Stadttheater ist viel flexibler in seinen Möglichkeiten als ihm nachgesagt wird. Wir kriegen Gelder dafür, dass wir Theater machen und können das in diesem Rahmen definieren. Wir merken das auch bei unseren internationalen Koproduktionen: Es geht.

Stuema Atmo Foyer P 4676 700Abstimmen für den Publikumspreis im Foyer © Sebastian Bühler

nachtkritik.de: Apropos international, auch mehrsprachige Inszenierungen gibt es mehr im Sprechtheater, auch wenn sie beim Heidelberger Stückemarkt dieses Jahr nicht vertreten sind…

Holger Schultze: Wir planen gerade für die nächste Spielzeit eine internationale Koproduktion mit Antú Romero Nunes, die "Zauberflöte" auf deutsch, spanisch, englisch und portugiesisch. Wir experimentieren damit viel herum. Die Sprache ist allerdings nicht das Hauptproblem, sondern eher die unterschiedlichen Mentalitäten der Beteiligten. Verschiedene Theaterkulturen zu verbinden.

Katrina Mäntele: Beim Stückemarkt diskutieren wir jedes Jahr wieder, was sich ändern muss, was wir aufbrechen müssen. Natürlich sind wir ein deutschsprachiges Festival und haben uns dieses Jahr die Frage gestellt, ob es richtig ist, dass wir einen deutschsprachigen Autorenwettbewerb haben. Wie können wir den Wettbewerb öffnen für Leute, die hier leben, aber noch nicht auf deutsch schreiben können? Daraus ergeben sich aber Komplikationen – wenn wir den Wettbewerb öffnen für Texte, die nicht auf deutsch geschrieben sind, müsste der Preis dann mit an die Übersetzer gehen. Oder öffnet man ihn gleich international? Für Autor*innen aus ganz Europa? Wir denken darüber nach und würden gerne eine Vielsprachigkeit reinbringen. Aber wir sind hier ein kleines Team und merken immer schon beim internationalen Autor*innenwettbewerb, was für eine Herausforderung das ist, alleine die Stücke auszuwählen: Welches Stück lässt man anübersetzen? Welchem Stück gibt man eine Chance?

nachtkritik.de: Wie steht es um den Anspruch, mit der Diversität hierzulande umzugehen, Theater für die Einwanderungsgesellschaft zu machen?

Holger Schultze: Das ist wichtig, ja. Ein besonderer Aspekt für die Zukunft der Theater könnte vor allem in internationalen Koproduktionen liegen. Wo sich die Stadttheater viel stärker einmischen könnten. Bisher sind die Spielpläne der internationalen Festivals ja noch vorwiegend von ein paar wenigen großen deutschen Theatern und einzelnen freien Gruppen dominiert. Die Internationalisierung der Theater ging los mit dem Wanderlust-Fond, der damals gar nicht so gut angenommen wurde, aber entscheidende Impulse gesetzt hat. Kleine Häuser wie Marburg und Krefeld arbeiten mittlerweile international. Stuttgart hat ein Europa Ensemble, Weimar arbeitet mit dem afghanischen afghanischen Azdar Theatre. Das ist eine ganz große Entwicklung, die da gerade im Gange ist.

Katrina Mäntele: Und die Häuser sind ja mit dem 360 Grad Fond auch gerade dabei sich intern zu diversifizieren ...

nachtkritik.de: Die Türkei war 2011 Gastland des Stückemarkts, jetzt erneut. Warum hat man sich nach relativ kurzer Zeit wieder dafür entschieden?

Holger Schultze: Wir hatten große Diskussionen darüber, ob wir ein Land zum zweiten Mal einladen wollen. Aber fanden es dann wichtig, uns mit der Realität in der Türkei zu beschäftigen. Genau hinzugucken auf eine Realität, über die ja alle möglichen Mutmaßungen kursieren. Außerdem ist die Szene dort außerordentlich lebendig, und es war uns auch wichtig, uns solidarisch mit den Künstler*innen zu zeigen.

Katrina Mäntele: Es gab einen Solidaritätsaufruf und eine Einladung zu Scoutreisen in die Türkei, wir sind hingefahren und haben dann überlegt, welche Möglichkeiten haben wir, diese Szene abzubilden? Wir waren in Istanbul und Ankara, haben viel Theater gesehen und auch viele Gespräche mit Theatermacher*innen geführt. Wir fanden es sehr wichtig genau jetzt dafür zu sorgen, dass die Brücke nicht abreißt zwischen Deutschland und der Türkei – eine Brücke, an der wir selbst mitgebaut haben.

nachtkritik.de: Die Szene ist lebendig, aber man arbeitet unter ganz anderen Bedingungen als hier. Wie schlägt sich das in den Stücken und Gastspielen nieder?

Katrina Mäntele: Auf allen Ebenen. Man findet ganz wenige klassische Stoffe. Das Theater ist sehr zeitgenössisch, sehr gesellschaftspolitisch. Kritik wird nie 1:1 formuliert, der Name Erdogan fällt eigentlich nie. Formal kommen die Stücke sehr pur daher, das beste Beispiel ist der Monolog mit Topfpflanze in "Lieber Schamloser Tod". Die Ästhetiken sind geprägt von dem Anspruch flexibel zu sein, notfalls an einen anderen Ort umzuziehen.

Holger Schultze: In Istanbul gibt es täglich 150 Vorstellungen, die Leute gehen ins Theater, es ist ein junges Publikum. Beneidenswert!

Katrina Mäntele: Es entstehen viele neue Bühnen, die gleichzeitig auch Begegnungsstätten sind. Das Theater schafft Räume um über das zu sprechen, worüber eigentlich geschwiegen werden soll.

Das Gespräch führten Sophie Diesselhorst und Simone Kaempf.

 

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