Kleine Zeitung, große Wirkung
von Verena Großkreutz
Heidelberg, 5. Mai 2019. Eine alte Schreibmaschine auf der Bühne kündigt’s an: Wir werden in ein fernes Pressezeitalter zurückgebeamt. Man schreibt das Jahr 1946, in der Türkei herrscht Recep Peker, und zum ersten Mal erscheint dort die Satire-Zeitung "Marko Paşa". Der Abend erzählt die Geschichte dieser kleinen Zeitung und ihrer politisch widerständigen, sozialkritischen, nimmer müden Redaktion, die sich von Drohbriefen, polizeilichen Redaktionsdurchsuchungen, Verhaftungen, Prozessen, Gefängnisstrafen nicht abhalten ließ, ihre Meinung zu äußern und Kritik zu üben.
"Meçhul Paşa – Die Geschichte einer verbotenen Zeitung" heißt das Stück von Ahmet Sami Özbudak, mit dem die Istanbuler freie Theatergruppe tiyatroadam beim Stückemarkt zu Gast war und sich am Ende über Standing Ovation freuen durfte. Es war durch die Bank ja jedem klar im Marguerre-Saal, dass zwar von der Zeitung Marko Paşa die Rede ist, aber natürlich auch die gegenwärtigen Zustände in der Türkei gemeint sind: Unter Erdoğan und seit den Gezi-Protesten 2013 werden die Medien immer massiver drangsaliert. Wer anderer Meinung ist, wird entlassen oder gar verhaftet. Mit der Einsetzung staatlicher Treuhänder verlieren oppositionelle Zeitungen ihre Unabhängigkeit, kritische Stimmen verstummen.
Komödie vom Feinsten
Es ist wirklich virtuos, was die drei Schauspieler Erdem Akakçe, Fatih Koyunoğlu und Bülent Çolak da auf die Bühne bringen. Eine Komödie vom Feinsten, mit grandiosem manchmal verwirrendem Rollenswitching. Schließlich spielen die drei nicht nur das Herz der Zeitung: den saufenden Setzer Mahir, den Tee kochenden Seyfi, der nicht lesen und schreiben kann, und Hamza, der Briefe diktiert, sondern auch alle intellektuellen Köpfe des Blatts: die Autoren Aziz Nesin, Sabahattin Ali, Rifat Ilgaz und den Zeichner Mustafa Mim Uykusu.
Immer wieder schlüpfen sie in die Rollen auch ausgewählter Leser*innen der Zeitung: zwei ältere Damen und zwei ältere Bauern, die sich köstlich über die Inhalte der Zeitung amüsieren, über die pointiert formulierten Späße auf Kosten der Regierung. Außerdem spielen sie dümmliche Gefängniswärter, die die Notizen der eingesperrten Redakteure lieber zerrissen sehen wollen, oder aufdringliche Polizisten und Staatsbeamte. Wechseln die Rollen, in dem sie Körperhaltung, Stimme und Artikulation variieren. Kostümwechsel haben die drei nicht nötig, sie tauschen nur Details aus: eine Brille oder eine Mütze.
Lesen und Schreiben lernen
Und auch das Bühnenbild ist karg: eine multifunktionale Pappkulisse mit draufgemalter Druckmaschine und Setzerei, zwei alte Standmikrophone, rollbare Gitterstäbe, ein Tisch, ein paar Stühle. Geräusche machen sie selbst, Musik wird zugespielt: melodramatisch manchmal, dann hört man auch mal ironisch eingesetzt Orffs "Carmina Burana" oder "Lili Marlen".
"Wenn du nicht lachst, kommst du in die Hölle", sagt der saufende Setzer einmal zum ahnungslosen Seyfi, der sich vom ehemaligen Lehrer Sabahattin Ali endlich das Lesen und Schreiben beibringen lässt. Überhaupt wundern sich die Männer doch sehr, welche "Angst" ihre so "winzige Zeitung" zu verbreiten in der Lage ist. In ihrer Hochzeit beträgt die Auflage kaum 60.000. Aber sie ist populär, selbst ein besoffener Strolch auf der Straße weiß ausführlich einen Witz zu erzählen aus der Marko Paşa, der verkürzt in etwa so lautet: "Gäbe es Menschen auf dem Mond, würden die Deutschen ihn besetzen, die Briten ihn kolonalisieren und die Türken den Ausnahmezustand ausrufen."
Papierschiff ins Unbekannte
Weil die Obrigkeit ständig kommunistische Umtriebe wittert, wird es immer schwieriger, Auslieferer und Druckereien zu finden. Also trägt man, „die Zeitung, die um 8 erscheint und um 9 konfisziert wird“, selbst aus und stellt sich tagelang an die Vervielfältigungsmaschine.
22 Ausgaben hält man dem Druck stand, dann müssen neue Strategien her: Man wechselt den Zeitungstitel, immer wieder, verwirrt dadurch die Staatsmacht, aber auch die Leser*innen. Das wird klar: Wie existenziell das Bedürfnis der Protagonisten ist, schreibend das Gewissen der Menschen zu befeuern, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, ihr "Papierschiff ins Unbekannte" weitersegeln zu lassen. Koste es, was es wolle. Sie können nicht anders.
Am Ende wird Aziz Nesin in die Provinz verbannt, dann wird Sabahattin Ali ermordet. Eine rührende Szene, wie der ehemalige Analphabet Seyfi weinend und stockend die Todesnachricht in der Zeitung entziffert und spricht: "Ich habe es doch sehr schön gelesen, Meister Ali."
Meçhul Paşa – Die Geschichte einer verbotenen Zeitung
von Ahmet Sami Özbudak
in türkischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Regie: Emrah Eren, Bühne und Kostüm: Barış Dinçel, Lichtdesign: Yakup Çartık, Musik: Deniz Bayrak, Berkcan Kılıç.
Mit: Erdem Akakçe, Fatih Koyunoğlu, Bülent Çolak.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.tiyatroadam.com
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