Après-Ski am Golgata
von Michael Wolf
Heidelberg, 29. April 2019. Vor eineinhalb Jahren erregte ein #metoo-Fall großes Aufsehen in Österreich. Die Ex-Skifahrerin Nicola Werdenigg berichtete öffentlich von dem sexuellen Missbrauch, den sie zu Beginn ihrer Karriere erlitt. Die Täter waren Trainer, Betreuer und Sponsoren. Mit ihnen stand Jahrzehnte später ein ganzer Ski-Verband am Pranger, und damit – wegen der großen Bedeutung dieses Sports für Österreich – das Land selbst.
Hier kommt Elfriede Jelinek ins Spiel. Die Nobelpreisträgerin ist eine engagierte politische Beobachterin. Ihr vorletztes Stück "Am Königsweg" behandelte das Phänomen Donald Trump. Ihr jüngstes "Schnee Weiss" nimmt nun den Fall von Werdenigg zum Anlass, den Gründen sexuellen Missbrauchs auf die Spur zu gehen. Tief muss sie graben, um fündig zu werden: ganz unten am Grund – oder besser Abgrund – unserer Kultur.
Kult um Schuld und Scham
Da wäre das Christentum und gerade der Katholizismus mit seinem Kult um Scham und Schuld. "Der Gedanke, dass ich den Männern, die mich gefickt haben, das nie vergelten werde können, was sie in mich investiert haben, also nein! Auf ewig bin ich ihre Maria Magdalena." Im Kölner Gastspiel spricht Lola Klamroth diese Sätze. Mit dem Rücken ist sie, wie Prometheus in der griechischen Sage, an den schneebedeckten Berg hinter ihr gekettet, wartet auf ihren Vergewaltiger, eine Märtyrerin, die gar nicht weiß, wofür sie sich opfert. "Irgendwas soll ich hier büßen, ich möchte wissen, was. (...) Das schlechte Gewissen hat sich in mir festgesetzt, eingefressen, ausgebreitet."
Das Theater Heidelberg bewirbt das Gastspiel in der Regie von Stefan Bachmann als "Stück zu #metoo". Das ist etwas kurz gegriffen, denn alles hängt mit allem zusammen. Jelinek geht es auch – um nur ein paar Themen zu nennen – um Umweltzerstörung, um den politischen Rechtsruck und eine Kritik des Sports als Strategie der Disziplinierung. Sie bedient sich nicht nur bei dem österreichischen Skandal, sondern auch bei Sophokles, der Bibel, Nietzsche, dem Skandalautor aus wilhelminischer Zeit Oskar Panizza, schöpft aus dem Vollen der Geistesgeschichte.
In Stefan Bachmanns Inszenierung läuft das sechsköpfige Ensemble dazu mit monströsen Masken herum: Sie stechen die heilige Kuh Österreichs (den Skisport) nieder, ein Horrorclown und der Krampus kommen vorbei, Jesus zetert am Kreuz und ein körperloser Mann referiert über Kastration. Simon Kirsch gibt ihn als cholerischen frei schwebenden Kopf. Dazu wummern anfangs Après-Ski-Klassiker, später dann – es geht gerade um Nietzsches Moralbegriff – hüpfen die Affen wie in Stanley Kubricks Filmklassiker 2001 zu Richard Strauss "Also sprach Zarathustra" herum. Bachmanns Bilder sind teils zu naheliegend, sein Zugriff wirkt defensiv und etwas unentschlossen. Je länger die Aufführung dauert, scheint sie nur noch Nummern aneinanderzureihen, der Rhythmus des Textes geht so verloren.
Hoffnung auf Erlösung
Jelineks Stücke lehnen sich sowohl thematisch als auch stilistisch an das psychoanalytische Verfahren der freien Assoziation an. Indem er sich selbst pervertiert, gebiert ein Satz den nachfolgenden. Diesem poetischen Programm liegt der Glaube zugrunde, dass unsere Welt aus Sprache besteht und die Gründe für den bedrückenden Status Quo nur über den Umweg durch den labyrinthischen Gang derselben zu erkunden sein können. Ein düsteres, zutiefst pessimistisches Unterfangen, das dem Publikum eine gewisse Frustrationstoleranz abverlangt. Durchaus selbstironisch darf man es verstehen, wenn Peter Knaack als Messias am Kreuz lamentiert: "Ich lasse die Ewigkeit immer noch nicht enden. Wir werden sehen, wer den längeren Atem hat." Auch Jelinek kommt nicht auf den Punkt, kann und darf es nicht. Konsequenterweise dürften ihre Texte nie aufhören. Erlösung ist bei ihr nicht vorgesehen. Ihr Projekt ist die Gegenwart. Und die wird nicht enden, bevor der Letzte das Licht ausmacht.
Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier)
von Elfriede Jelinek
Uraufführung
Regie: Stefan Bachmann, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Komposition und musikalische Einrichtung: Gajek, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Margot Gödrös, Simon Kirsch, Lola Klamroth, Peter Knaack, Nikolay Sidorenko, Sabine Waibel.
www.schauspiel.koeln
Zur nachtkritik der Uraufführung von "Schnee Weiss" in Köln im Dezember 2018