Wirklich fremd

von Sophie Diesselhorst

Heidelberg, 27. Mai 2019. An einem Ort, wo man wirklich fremd ist, fühlt man sich besser als an einem Ort, wo man kein Fremder sein darf – sagt die Schauspielerin Hicran Demir, nachdem sie erzählt hat, wie sie als Kind mit ihren türkischen Eltern aus ihrem Geburtsland Deutschland in die Türkei zurückging und irgendwann mit ihrer Tochter, ungefähr im gleichen Alter wie damals sie selbst, nach Kanada ausgewandert ist, in ein Land, das beide nicht kennen, wo sie eben "wirklich fremd" sind. Hicran Demir spricht nicht über sich selbst, sondern für eine der anonymen Stimmen aus der Collage "Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)" von Zinnure Türe.

Die Theatermacherin Türe, Jahrgang 1981, die in der Türkei lebt und arbeitet, hat während einer Künstlerresidenz in Heidelberg Interviews zum Thema Emigration geführt: mit solchen, die in den letzten Jahren die Türkei verlassen haben nach Deutschland. Mit solchen, die wieder zurückgekehrt sind und mit solchen, die noch ganz woanders hingegangen sind.

Zurückkehren, wieder weggehen

Türe selbst ist in Deutschland geboren und als Kind mit ihren Eltern in die Türkei remigriert. Aus ihren Interviews hat sie Monologe gemacht, die vier Spieler*innen springen von Erzählung zu Erzählung und verbinden die unterschiedlichen Perspektiven durch kurze Rituale der Gemeinsamkeit. Einmal versuchen sie Popcorn aus einer Popcornmaschine mit dem Mund zu fangen. Sie tanzen zusammen und ziehen abwechselnd einen ausladenden grünen Federkragen an, der aussieht wie ein Pfauenrad.

Istanbul 1972 700 SBUnterschiedliche Kleider, gemischte Identitäten: Hicran Demir in "Zwischenraum" © Sebastian Bühler 

Katharina Quast erzählt den Kragen tragend die Geschichte von der Schlangenkönigin Şahmeran, ein bekanntes türkisches Märchen. Von Şahmeran gibt es viele sehr unterschiedliche bildliche Darstellungen, der Kragen fügt nun noch eine hinzu. Die Schlangenkönigin hat einen menschlichen Geliebten, Camsap, den es irgendwann aus ihrem Reich in seine alte Heimat zurückzieht. Er verspricht ihr, den Weg zu ihr nicht zu verraten. Unter Folter verrät er ihn doch, aber sie verzeiht ihm, kurz bevor sie getötet wird, und gibt ihre Weisheit an ihn weiter. Es ist eine gnädige Geschichte, Balsam am Ende eines Abends, der viele Wunden gezeigt hat.

Übung der Gemeinsamkeit

In den Erzählungen geht es um die Angst vor Repression und Anschlägen und die Angst vor dieser Angst, vor der man flieht, indem man auswandert. Um die Schuldgefühle, wenn die Mutter am Telefon weint. Darum, wie fremd man sich im neuen Land fühlen kann, wie einsam, zwischen Deutschen, die einen als fremd ansehen und das Fremde zunehmend offen ablehnen, und Türken, die viel früher als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind und sich in ihrem Fremdsein eingerichtet haben. Deutscher gesellschaftlicher Rassismus wird durch die Geschichten implizit aufgedeckt, deutsche politische Doppelmoral wird explizit kritisiert: das Land, das seine Atomkraftwerke abschafft und der Türkei hilft, Neue zu bauen.

Zinnure Türe achtet aber als Autorin und Regisseurin vor allem sehr genau darauf, nicht in den Wunden zu bohren. Mit großem Respekt, ja mit Scheu nähern die Spieler*innen sich ihren Texten. Es wird nicht die Eskalation gesucht, sondern Komplexität auf die karge T-förmige Bühne gebeten.

Istanbul 2068 700 SBGemeinsamkeits-Rituale und Improvisationen mit: Christina Rubruck, Katharina Quast, Andreas Seifert, Hicran Demir © Sebastian Bühler

Es ist eine Offenheits-Übung, grundiert von einer elegischen Transit-Atmosphäre: Einmal flimmert minutenlang das schwarz-weiße Video einer Schiffsfahrt über den Bosporus im Hintergrund, vom asiatischen ins europäische Istanbul. Vorsichtig singt Katharina Quast ein türkisches Lied, behutsam erzählt Christina Rubruck als Mutter im Altersheim in Istanbul davon, wie sie sich jeden Tag an die "Geisterhaltestelle" setzt, wo nie ein Bus hält. Auch sie hat eine Sehnsucht fortzugehen, aber anders als ihre Tochter nicht mehr die Möglichkeit.

Allein wenn Andreas Seifert von einer Liebesgeschichte zwischen jungen Gezi-Park-Demonstranten erzählt, ist der Altersabstand ein bisschen zu groß, wirkt die sonst klug eingesetzte Distanzierung der Spieler*innen von ihren Erzählfiguren forciert. Die Türkei ist in diesem Jahr (und nach 2011 zum zweiten Mal) Gastland beim Heidelberger Stückemarkt. "Should I stay or should I go?" ist eine Frage, die sich immer mehr Menschen, besonders Künstler*innen, Akademiker*innen, Journalist*innen dort zurzeit stellen. "Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)" wurde schon Anfang März uraufgeführt und war nun eine künstlerische Einführung in die Themen, die der Türkei-Schwerpunkt am zweiten Wochenende des Stückemarkts mit sich bringen wird.

 

Zwischenraum (Istanbul – Heidelberg)
von Zinnure Türe
Regie: Zinnure Türe, Ausstattung: Stephanie Karl, Dramaturgie: Jürgen Popig.
Mit: Hicran Demir, Katharina Quast, Christina Rubruck, Andreas Seifert.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de

 

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