Die Welt zieht vorbei
von Sophie Diesselhorst
Heidelberg, 5. Mai 2019. "Das weiße Dorf" hat den Autor*innenpreis des 36. Heidelberger Stückemarkts 2019 gewonnen. Als die Nominierungen bekannt wurden, hieß das Stück noch "Catfish". Dann hat Teresa Dopler sich für einen neuen Titel entschieden und auch ihre Hauptfigur noch einmal umbenannt, von Clara in Ruth. Ruth ist präziser als Clara für diese Frau, und Präzision ist der österreichischen Autorin wichtig.
Das weiße Dorf ausbuchstabiert. Zwei Figuren lauscht Teresa Dopler nach, die immer genau dann reden, wenn sie schweigen sollten und immer genau dann schweigen oder verlegen lachen, wenn sie reden sollten. "Gespenster" sind sie für sie irgendwann geworden, sagte Dopler in der Diskussion nach der Lesung von "Das weiße Dorf" am ersten Wochenende des Stückemarkts, ihr Gespräch sei eigentlich "ein Monolog mit zwei Sprechern". Ein Monolog über eine verpasste Liebe, deren Möglichkeit noch einmal aufscheinen darf, um dann umso nachdrücklicher dem Vergessen überantwortet zu werden.
Ruth steht mit ihrem Ex-Freund Ivan an der Reling eines Kreuzfahrtschiffs, das über den Amazonas tuckert. Das ist die Situation, dieKonzentration und Fantasie
"Das weiße Dorf" ist von den Stücken, die dieses Jahr um den Autor*innenpreis konkurrierten, das mit der strengsten formalen Setzung. Über die eine Spielsituation auf dem Schiffsdeck geht es nicht hinaus, die Figuren verharren dort. Auch ein Spiel mit Ebenen findet nicht statt. Damit sind fast alle Stücke sehr zurückhaltend.
Auch Nadja Wiesers Kinderstück Honig hat nur zweieinhalb Figuren, aber ihre beiden Kinder Tasch und Taja sind Streuner, wollen dorthin, wo sie nicht hindürfen, zum titelgebenden Soldaten "Honig“ von der ausländischen Besatzungsmacht, die ihr Land "schützt". In Daniel Rattheis pointierter Goethe-Überschreibung "Werther in love" (vom Autor selbst kategorisiert als Jugendstück) dreht sich Werther, ganz originalgetreu, vor allem um sich selbst. Auch in Björn SC Deigners Reichsbürger-Farce Der Reichskanzler von Atlantis gedeiht Größenwahn – auf engem Raum, ebenfalls in kleiner Besetzung. Der Reichskanzler empfängt den Reichsinnenminister, seine Gattin serviert altdeutschen Apfelkuchen und Tee, auch dem Geist, der dem Kanzler Verschwörungstheorien einflüstert. Deigner bleibt bis zum bitteren Ende in der Vorstellungswelt seines Reichskanzlers und berauscht sich parodistisch daran. Die Außenwelt wird – genauso wie in Teresa Doplers Stück – von der Fantasie vereinnahmt, die bei Deigner sogar mit Gewalt verteidigt wird, wenn der Reichskanzler am Ende den Revolver lädt, als die Polizei kommt. Bei Dopler hingegen zieht das Außen einfach vorbei am fahrenden Schiff und bietet höchstens ein Gesprächsthema, wenn es dringend einen Anlass braucht um weiterzureden: "Ivan: unglaublich, wie breit der Amazonas hier ist / Ruth: ja, verrückt".
Postkoloniales Spannungsfeld
Der Titel "Das weiße Dorf" bezieht sich auf ein Dorf in Spanien, das Ruth in einer Urlaubs-Erzählung utopisch überhöht – ist aber natürlich auch eine Chiffre für das Schiff mit wohlhabenden Menschen aus dem globalen Norden auf einem Fluss im globalen Süden. Das postkoloniale Spannungsfeld betritt auch Magdalena Schrefels Ein Berg, viele, und geht dabei mehr in die Tiefe. Schrefel erzählt die (verbriefte) Geschichte eines Geografen, der einen Berg in einem afrikanischen Land erfindet, um sich einen Flusslauf zu erklären. Es kommen zu Wort der Geograf selbst, seine beiden Kinder, die ihn durchs Schlüsselloch dabei beobachten wie er "die Welt vermisst". Außerdem eine Filmemacherin, die der Geschichte vom erfundenen Berg nachgeht, und ein Flüchtender, der "auftritt obwohl niemand für ihn sprechen kann". Kunstvoll verbindet Schrefel die Ebenen.
Den Vogel abgeschossen in Sachen szenische Fantasie hat Caren Jeß, deren Bookpink immerhin eine "lobende Erwähnung" der Jury erhielt, "für die große Fantasie in der Sprache, den Szenen und den Figuren". Jeß` Stück ist eine gnadenlose Typologie im Federkleid: Dreckspfau, Bussard und Flamingos treiben einem mit ihren allzumenschlichen Verrenkungen und Verfehlungen die Schamesröte ins Gesicht, wie sie übereinander herziehen, aufeinander losgehen und pseudophilosophische Monologe halten. Da wuchern zwischendurch gar postdramatische Textflächen, eine Erscheinung, die die diesjährige Auswahl des Autor*innenwettbewerbs sonst ausgeklammert hat.
Traditionelle Nachwuchsförderung
Die Figuren sind zurück, aber es sind bei Teresa Dopler – wie auch bei Björn Deigner und Daniel Ratthei – Figuren, die sich von der Welt abschotten. Werther in seine unerreichbares Liebesideal, der Reichskanzler in sein postfaktisches Schloss, Ivan und Ruth in die gelangweilte Souveränität von zwei Yuppies, die schon lange nicht mehr sehen wollen, dass ihr Leben eigentlich noch vor ihnen liegt. Dass diesen Menschen was fehlt, wird bei Dopler tatsächlich am dringlichsten. "Über diesen Emotions-Zombies im Turbokapitalismus schwebt auch die Melancholie von Tschechow-Figuren, die spüren, dass ihnen die Kraft fehlt, aus der eigenen Lebenslüge herauszufinden", sagte Juror Andreas Jüttner in seiner Laudatio.
Magdalena Schrefel war mit Die Bergung der Landschaft 2014 schon einmal für den Heidelberger Autor*innenpreis nominiert, Daniel Ratthei war mit "Der goldene Ronny" in der Sektion Jugendstücke auch schon einmal nach Heidelberg eingeladen. Caren Jeß hat mit "Bookpink" bereits die Residency des Münchner Förderpreises für deutsche Dramatik gewonnen, Björn SC Deigner war 2018 mit "In Stanniolpapier" bei den Berliner Autorentheatertagen (wo Sebastian Hartmanns Uraufführung erheblich vom Stücktext abwich). Mit Teresa Dopler, Jahrgang 1990, hat nun die jüngste und am wenigsten im Theaterbetrieb arrivierte Autor*in gewonnen. Nachdem die Vorjahresgewinnerin Ulrike Syha in ihrer Dankesrede 2018 noch betont hatte, wie schwierig es ist als Dramatiker*in jenseits der 40 zu überdauern in einem auf Neuentdeckungen fixierten Betrieb, hat die Jury sich dieses Jahr deutlich zur traditionellen Nachwuchsförderung bekannt.
Mehr über die weiteren Preise im Resümee von Michael Wolf
Kommentare
Der Theaterbetrieb ist durchsetzt von "Altersrassismen"
- sanfter beschrieben als "Altersdiskriminierung (damit es hier nicht gekürzt wird)
und alle schweigen drüber hinweg und machen mit.
Osnabrück, Else-Laskers-Kaiserslautern, Detmold's Grabbe, Frankfurts Kleistpreis und diverse andere -
"öffentiche Stadttheaterinstitutionen" pflegen dies.
Nachwuchsförderung sollte auf künstlerischem Gebiet nie
etwas mit Alter zu tun haben. Wer mit 40+ beginnt zu schreiben,
ist Nachwuchs. Wer mit 28 Jahren aufhört - künstlerische Rentnerin.