Sexit-Alltag im Love Hotel
von Verena Großkreutz
Heidelberg, 3. Mai 2019. Die japanische Jugend treibt nur bedingt Lakensport. Die Abstinenzquote in Sachen Sex ist hoch. Von den Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen sollen sogar 50 Prozent noch nie Sex gehabt haben. Ein Trend mit Zukunft? Der japanische Dramatiker und Regisseur Toshiki Okada hat diese Frage mit einem witzigen, aufgedrehten, aber doch auch dystopischen Theaterabend beantwortet: "No Sex" wurde im April 2018 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Jetzt war das Stück als Gastspiel im Marguerre-Saal des Heidelberger Theaters zu sehen. Und kam sehr gut an.
Das Ganze spielt in der hippen Karaoke-Bar "Dickicht": braune Sofaecke, spacig bunt schillernde Tapeten, ein großer Glitzerspiegel, Grünpflanzen. Hier hinein schneien vier junge hübsche Männer auf Selbsterfahrungstrip: Zum ersten Mal ein Bier trinken und zum ersten Mal Karaoke singen. Wow! Sie tragen merkwürdige Klamotten wie einen Stehkragengürtel, zierliche Plateauschuhe oder eine rosé wattierte Weste.
Karaoke-Bar-Popsongs
Wenn sie reden – in einem Jargonmix aus Selbsthilfegruppe und Philosophie-Seminar – verdrehen sie ihre Körper in präzise choreographierten Gymnastikübungen. Es scheint, als könnten die vier ihre Körper nicht wirklich zielorientiert zum Einsatz bringen. Mit dem Gesagten hat das skurrile Gezappele, inspiriert vom No-Theater, jedenfalls nichts zu tun.
Alles wird durchdiskutiert. Sie nennen sich nach Zierpflanzen und ihre Clique "Cluster", und wenn sie Sex meinen, sagen sie "inter treatment". Sex ist nicht tabu in ihrer Welt: Sie wissen schlichtweg nichts von ihm. Ergo können sie gewisse Körperregungen nicht einordnen. Unberührte. Diskutieren lieber über den "Mechanismus der Resonanz" oder ob Trieb und Instinkt dasselbe meinen. Sie dozieren über Personalpronomen und die Transzendierung des Geschlechts. Und fragen sich: "Warum singt die menschliche Spezies?"
Geräusch des Matratzenschoners
Beim Karaoke-Singen betreibt man exzessive Selbstbeobachtung: "Ich fand das echt interessant, wie ich da gerade gesungen habe ‚Nimm mich in die Arme.'" Wenn der eine ins Mikro nöhlt, sitzen die drei anderen mit zusammengepressten Knien stocksteif auf dem Sofa. Ausgerechnet den Pointer-Sisters-Hit "I'm so excited", Madonnas "Like a virgin", Nirvanas "Smells like teen spirit" geben sie zum Besten, in sehr wörtlichen deutschen Übersetzungen. Sie beschweren sich darüber, dass der Inhalt sie belästige – sie meinen wohl sexuell. Göttlich, wie Benjamin Radjaipour, Christian Löber, Thomas Hauser und Franz Rogowski das spielen, diese Gradwanderung zwischen körperlicher Kontrolle und Hilflosigkeit.
"Was sind das für welche?", kann da die erstaunte Reinigungskraft Nakamura, gespielt von der wunderbaren Annette Paulmann, nur fragen. Erst beobachtet sie die vier, als seien sie interessante Insekten. Dann schockiert sie die Ahnungslosen mit Berichten vom Alltag in "Love-Hotels", nicht ohne die Dinge deftig beim Namen zu nennen: Welche Bettgröße die beste ist zum Vögeln, und wozu die Box mit Kleenex am Kopfende steht, und welche Geräusch beim Sex so ertönen, inklusive jener des Matratzenschoners.
Individualisierte Gesellschaft
Sie will den Jungs zeigen, wie wichtig Sinnlichkeit und Körperlichkeit ist, besingt den "Schweißgeruch deines Körpers in diesem Hemd", singt Donna Summers "I feel love" und wird dabei sogar ein ganz kleines bisschen übergriffig. Aber es nützt alles nix: Die vier verschmelzen zur Boygroup und singen "Es gibt Leute die tun’s, und wir tun‘s nicht. Vor allem: es interessiert uns nicht!"
Der weise Barchef Matsumoto (Stefan Merki mit Zöpfchen und in spitzen Schlangenlederboots) sieht’s entspannt: Vermutet am Ende einen politischen Akt hinter der Sexlosigkeit des Quartetts: Wider die Macht und das Kapital, die einem das Bedürfnis aufzwingen: "Und deshalb habt ihr euch vom Sex distanziert. Ihr seid also ausgetreten, vom Sex – so ist das: Sexit!"
Aber politisch aktiv, im Einsatz für die Gemeinschaft, wirken diese Jungs nun wirklich nicht. Vielmehr vollständig von sich selbst eingenommen, unsinnlich, deformiert. Früchtchen einer individualisierten, egozentrischen Gesellschaft. Nichts Gutes, was sich da ankündigt.
No sex
von Toshiki Okada
aus dem Japanischen von Andreas Regelsberger
Inszenierung: Toshiki Okada, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Tutia Schaad, Musik: Kazuhisa Uchihashi, Licht: Pit Schultheiss, Dramaturgie: Tarun Kade, Makiko Yamaguchi.
Mit: Thomas Hauser, Christian Löber, Stefan Merki, Annette Paulmann, Benjamin Radjaipour, Franz Rogowski.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de/