Der Penis hat Sendepause
von Michael Wolf
Heidelberg, 3. Mai 2019. Der Höhepunkt kommt nach einer halben Stunde. Da sehen wir Marielle Schavans Vulva in Großaufnahme einen Popsong singen. Die Schamlippen wiegen sich im Takt der Schnulze, das Sekret schäumt vor Ergriffenheit. Dieses Geschlechtsteil hat seinen eigenen Kopf und fordert sein Recht ein. "Meine Möse hat immer Ausfluss. Aber ich muss meine Schlüpfer nicht verstecken, weil das bei anderen auch so ist", verrät uns Schavan. Ihre Möse möge Schamhaar, ihre Möse wolle manchmal ausgefüllt sein; es müsse aber kein Penis sein, auch ein Dildo oder eine Gurke sei zu gebrauchen. Der Penis hat in "Oh my" ohnehin Sendepause.
Pornostudio-Filmkulisse
Die vier jungen Frauen der Gruppe "Henrike Iglesias" wollen den dominanten männlich-heterosexuellen Blick auf die weibliche Sexualität weiten. Die Botschaft ist explizit: Eine Klitoris ist größer, Attraktivität ist komplizierter und Lust mehr als uns Pornos oder Sigmund Freud weismachen wollen.
Eindrücklich ist das, wenn die Performerinnen von persönlichen Erfahrungen sprechen, wenn Sophia Schroth erzählt, wie lange sie sich für ihren Körper schämte, oder Anna Fries von der Schwierigkeit berichtet, sich dem Moment hinzugeben und einen Orgasmus zu erreichen. Über weite Strecken wirkt die Performance aber wie die Adaption eines Bento-Artikels. Das Quartett produziert in einem weißen Quader, ihrem Filmstudio, alternative Porno-Clips. Sie fahren mit einer Live-Kamera über ineinander verschlungenes Gemüse, schlürfen vermeintliches Menstruationsblut ("Warum liegen hier eigentlich Strohhalme?") oder ironisieren den Leistungssportler-Sex aus der Hardcore-Sparte.
Nachhilfestunde der älteren Schwester
Zwischendurch pirscht sich Laura Naumann als personifiziertes Patriarchat (ein stacheliger Dildosaurier) an und wünscht sich anstelle der grassierenden Raubtier-Sexualität eine Welt, in der alle die körperliche Selbstbestimmtheit der anderen akzeptierten. Natürlich ist dieses Anliegen vernünftig, so wie der ganze Abend sympathisch ist, aber vielleicht liegt darin auch der Grund, dass er nicht so recht zur Sache kommt. Zu Charmant, zu kuschelpädagogisch, wie eine Nachhilfestunde von der coolen, älteren Schwester kommt die Performance rüber.
Richtig betulich wird es, als Naumann den Begriff von Sex auf diverse intime Erfahrungen auszuweiten versucht und zur Demonstration mit einer Zuschauerin zwei Luftballons zerplatzen lässt. "Oh my" aber knallt nicht, was vielleicht auch am abgeklärten, aufgeklärten Publikum liegt. Nicht auszudenken, wie produktiv destruktiv diese Arbeit auf eine zehnte Schulklasse wirken könnte. Vor einem erwachsenen Publikum aber dürfte es gern etwas härter zur Sache gehen.
Oh my
Konzept, Text, Performance: Henrike Iglesias, Video & Lichtdesign: Eva G. Alonso, Musik & Sounddesign: Malu Peeters, Kostüme: Mascha Mihoa Bischoff,
Von und mit: Henrike Iglesias (Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan, Sophia Schroth)
Produktion: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro, Übersetzung: Naomi Boyce
Eine Produktion von Henrike Iglesias in Koproduktion mit ROXY Birsfelden, SOPHIENSÆLE, Münchner Kammerspiele und FFT Düsseldorf // gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds und Fachausschuss Tanz & Theater Basel & Baselland
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
henrikeiglesias.com